Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)
bis auf den letzten Tropfen leer trinken.
Meist musste ich auch in die Schule, wenn ich krank war, weil mich Mama nicht in der bitterkalten Wohnung zurücklassen wollte. Es gab Zeiten, da verschwamm das Klassenzimmer vor meinen Augen, mein Gesicht glühte und meine Nase tropfte unaufhörlich.
Ich hatte gehofft, dass mich Mr Bogart loben würde, wenn er merkte, dass Chemie und Mathematik meine besten Fächer waren, aber das tat er nicht. Er schien davon auszugehen, dass Mädchen grundsätzlich nichts von diesen Themen verstanden, und wenn ein Mädchen an die Tafel musste, um eine Aufgabe zu rechnen, hatte er oft ein herablassendes Lächeln auf den Lippen und machte Bemerkungen über das »schöne Geschlecht«, was wohl heißen sollte, dass Mädchen außer Schönsein nichts konnten. Mir machte es Spaß, seine Vorurteile zu widerlegen. Sobald ich einmal etwas niedergeschrieben sah, verstand ich es problemlos, auch wenn er mir für jede Abweichung von dem von ihm unterrichteten Lösungsweg Punkte abzog. Alles, was mit Mathematik zu tun hatte, lernte ich schneller als jeder andere Schüler in der Klasse.
In anderen Fächern hingegen versagte ich trotz Annettes Hilfe: Physik, Sozialkunde, Englische Literatur, alles, was zu sehr mit Wörtern zu tun hatte. Weil ich bisher allein auf meine Lesefähigkeiten angewiesen war, bat ich Mama, mir die Ohren mit einem Ohrenschmalzlöffel auszuschaben, damit ich besser verstand, was im Unterricht gesagt wurde. Sie gab mir außerdem 2,99 Dollar, damit ich mir eine Taschenbuchausgabe von Websters Wörterbuch kaufen konnte. Das waren fast zweihundert bearbeitete Röcke, denn wir bekamen 1,5 Cent pro Rock. Jahrelang rechnete ich mir anhand von Röcken aus, ob etwas teuer war oder nicht. Mit der U-Bahn zur Fabrik und zurück zu fahren kostete damals schon hundert Röcke, ein Päckchen Kaugummi kostete sieben, ein Hotdog fünfzig und ein neues Spielzeug konnte zwischen dreihundert und zweitausend Röcke kosten. Ich maß sogar Freundschaften in Röcken, denn ich hatte schnell gelernt, dass man für Freunde Weihnachts- und Geburtstagsgeschenke kaufen musste, was jeweils mehrere hundert Röcke kostete. Zum Glück war Annette meine einzige Freundin.
Das Wörterbuch benutzte ich viele Jahre lang. Irgendwann löste sich der Buchdeckel ab, und von da an klebte ich ihn immer wieder an, bis er nicht mehr reparabel war. Dann fingen die vorderen Seiten an, sich aufzurollen und ebenfalls abzufallen. Ich benutzte das Wörterbuch selbst dann noch, als bereits der gesamte Ausspracheteil und die meisten Wörter mit A fehlten.
Mama erzählte ich, dass wir unsere Tests und Hausaufgaben nicht mit nach Hause nehmen durften und ich ihr deshalb nichts zeigen konnte. Aber ich versicherte ihr, dass ich gute Fortschritte machte. Ich behauptete, Mr Bogart habe inzwischen erkannt, was für eine gute Schülerin ich sei. Diese Lügen schmerzten mich jedes Mal aufs Neue. In Wirklichkeit
schien Mr Bogart keine Mühen zu scheuen, sich Aufgaben auszudenken, die für mich so gut wie unlösbar waren (heute glaube ich, dass er einfach nur gedankenlos war): Beschreibe dein Zimmer auf einer Seite und erläutere, was dir die Gegenstände darin bedeuten (als ob ich ein eigenes Zimmer gehabt hätte, das zudem noch mit heiß geliebten Spielsachen gefüllt war); bastle ein Poster über ein Buch, das du gelesen hast (mit welchem Material?); erstelle eine Collage über die Reagan-Regierung und benutze dafür Fotos aus alten Zeitschriften (Mama kaufte nur hin und wieder eine chinesische Zeitung). Er wollte einfach nicht sehen, dass ich mein Bestes gab. Halbherziger Versuch, schrieb er. Unvollständig. Lieblos. Eine aus Bildern bestehende Collage sollte per definitionem keinen chinesischen Text enthalten.
Ich war nicht das einzige Kind in der Klasse, das Schwierigkeiten mit Mr Bogarts Aufgabenstellungen hatte. Er schien unfähig zu sein, auf die Fähigkeiten und Interessen von Sechstklässlern einzugehen. Die meisten anderen Kinder zuckten nur mit den Schultern, wenn er sie kritisierte oder durchfallen ließ. Sie hatten sich aufgegeben. Aber ich war bis vor kurzem noch der Star meiner alten Schule gewesen, wo ich in Chinesisch und Mathe Preise bei schulübergreifenden Wettbewerben gewonnen hatte. Ich hätte alles dafür gegeben, wieder gut in der Schule zu sein. Wie sonst sollte ich Mama und mich aus der Fabrik herausholen? Mr Bogart musste längst erkannt haben, dass ich nicht dumm war, mochte mich aber offenkundig trotzdem nicht.
Weitere Kostenlose Bücher