Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)
kleine Bruder stapelte ein paar Cracker auf seiner
Hand, zog Annette das Comicbuch unterm Arm weg und flitzte zur Treppe im Eingangsbereich.
»Keine Krümel auf dem Teppich!«, rief ihm Mrs Avery nach.
Annettes Gesicht bekam sofort wieder Flecken. »Mom! Er hat mir …«
»Hör auf damit, Annette. Du kannst das Buch später lesen, jetzt hast du doch sowieso Besuch.« Mrs Avery wandte sich an mich: »Kimberly, du wirst bald merken, dass hier das absolute Kaos regiert.«
Annette konzentrierte sich auf ihren Snack, und als wir fertig waren, gingen wir nach oben in ihr Zimmer. Im Wohnzimmer sah ich im Vorbeigehen einen schwarzen Flügel stehen, und daneben lag der Hund ausgestreckt auf einer riesigen, goldrot gestreiften Couchgarnitur.
Selbst aus der Entfernung erkannte ich, dass sich auf den dicken Polstern eine fusselige Schicht Hundehaare gebildet hatte.
Annettes Zimmer war fast so groß wie unser Klassenzimmer. Eine ganz Wand bestand nur aus Regalen, auf denen sich die Spielsachen türmten: Plüschtiere, Brettspiele, Bauklötze. Außerdem besaß Annette ein Stockbett mit einer Leiter zum Hochklettern und einer Rutsche zum Runterrutschen. Auf dem unteren Bett schlafe niemand, erklärte sie. Das Stockbett hatte sie, weil sie gern in luftigen Höhen schlief. Ich kletterte hinter ihr die Leiter hoch, hielt mich aber trotz des Holzgeländers ängstlich vom Rand der Matratze fern. Nachdem ich mich an die Höhe gewöhnt hatte, empfand ich es als herrlich und berauschend, mit einer Freundin an meiner Seite so nah an der Zimmerdecke zu liegen, ohne Schuhe und mit der Aussicht, später auf einer Rutsche wieder zurück nach unten zu gleiten. In Annettes Haus war es
so warm, dass ich gleich mehrere Kleidungsschichten auszog und nur mein Unterhemd anbehielt. Ich fühlte mich schwerelos und glücklich, wie früher in Hongkong.
»Oh, wie süüüüüüß … Die Mädchen spielen in ihrem Baumhaus! Nehmt euch bloß vor Käfern in Acht!« Wie eine Pusteblume lugte der kleine Kopf von Annettes Bruder hinter der Tür hervor.
»Ich bring dich um!«, brüllte Annette und rutschte vom Bett, aber noch bevor sie den Boden erreichte, war sein Kopf wieder verschwunden. Sie rannte zur Tür und steckte den Kopf hinaus. »Wenn du noch einmal hier reinkommst, verpetz ich dich!«
Sie schlug die Tür zu. »Ich wünschte, ich könnte ihn einfach aussperren, aber wir wollen hier im Haus keine abgeschlossenen Türen haben.« Ich merkte sofort, dass sie eine Redensart ihrer Eltern zitierte. Wenn sich doch Mama den Luxus erlauben könnte, Benimmregeln für mich aufzustellen – sie aber konnte schon froh sein, wenn sie uns beide über Wasser hielt.
Ich warf einen Blick auf die Uhr neben Annettes Bett, auf der Snoopys Hände die Uhrzeit anzeigten. Uns blieb nicht mehr viel Zeit, bis ich gehen musste. »Vielleicht fangen wir an mit Arbeit jetzt?«
Mrs Avery hatte unser Bastelmaterial schon auf Annettes Schreibtisch bereitgelegt. Alles war neu und sauber: ein großer Schuhkarton, bunte Pappbögen, grüne und goldene Glitzerfarbe, Wasserfarben und zwei Sorten Filzmarker, Klebstoff und Scheren. Hätte ich allein zu Hause gearbeitet, hätte ich ganz anders vorgehen müssen: Ich hätte einen Karton aus dem Müll anderer Leute gefischt, Buchstaben aus alten Zeitungen ausgeschnitten und mit Klebeband am Karton befestigt und die Figuren mit Kugelschreiber gemalt. Mit unseren schönen Bastelutensilien hingegen hatten Annette und
ich das Diorama im Handumdrehen fertig. Es zeigte eine Gruppe Menschen, die im Kreis auf dem Boden saßen, sich bei den Händen hielten und lächelten. Wir benutzten Glitzerfarbe, um hinter den Figuren das Wort »Kommunikation« auf den Karton zu schreiben. Das war Annettes Idee gewesen, und ich war froh, dass sie wusste, was wir zu tun hatten.
Als mich Mrs Avery später nach Hause fuhr, bat ich sie, mich bei der Schule abzusetzen.
»Nein, ich fahre dich nach Hause, Liebes«, protestierte sie. »Sag mir einfach, wo du wohnst. Ich arbeite tei-zei als Mackerin, ich finde alles.«
»Schule okay«, log ich. »Mama wartet auf mich an Schule.«
»Aber die Schule ist um diese Zeit geschl…« Sie brach mitten im Satz ab, holte tief Luft und sagte dann: »An der Schule also. Bist du sicher?«
Ich nickte.
»Dann eben an der Schule. Wie du möchtest!« Sie klang fröhlich.
Als wir bei der Schule ankamen, waren alle Fenster dunkel, und auf dem Gehweg war niemand mehr zu sehen. Genau wie Mama war Mrs Avery nicht die Sorte Mutter,
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