Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)
Ruhe Auto fahren!«, bat Mrs Avery.
So ging es weiter, bis wir in eine schöne Allee einbogen. Die Autofahrt hatte gar nicht lange gedauert, und ich war überrascht, dass Brooklyn auch so aussehen konnte. Nirgendwo waren Graffiti zu sehen oder Sozialwohnungen oder Baugruben. Die Straße hatte ein Kopfsteinpflaster und war gesäumt von niedrigen, eleganten Häusern mit Gärten. Mrs Avery parkte neben einem dreistöckigen Haus mit einer Art Steinkonstruktion im Vorgarten. Es sah aus wie ein Brunnen. Als ich hineinspähte, sah ich jedoch, dass es sich um einen von echten Goldfischen und Karpfen bewohnten Teich handelte, aus dessen Mitte eine Wasserfontäne sprudelte. Von da an träumte ich oft davon, dass mir Mrs Avery einen überzähligen Goldfisch aus ihrem Teich in einer Plastiktüte schenkte, vielleicht einen Babyfisch, der gerade erst geboren war. Den würde ich mit nach Hause nehmen und in eine Reisschüssel setzen. Ein Goldfisch fraß nicht viel und konnte daher nicht allzu teuer im Unterhalt sein.
Annette und ihr Bruder waren bereits die Steintreppe zur Haustür hinaufgerannt, und dort gelang es Annette, sich das
Comicbuch unter den Nagel zu reißen. »Mom!«, jammerte Annettes Bruder, als Mrs Avery und ich dazukamen.
»Einen Moment, Schatz«, antwortete Mrs Avery und steckte den Schlüssel ins Schloss.
Die Haustür ging auf und gab den Blick auf einen Kronleuchter frei, der im einfallenden Licht glitzerte wie Frühlingslaub im Regen. Im Eingangsbereich stand eine Kristallschüssel mit frischem Obst auf einem lackierten Tisch. Ich fragte mich, wie die Averys diese unbedeckte Schüssel vor Kakerlaken schützten. Der Geruch von Zitronenscheuermittel und Gebäck verschmolz zu einem sauberen, köstlichen Duft, und auf einem dicken geblümten Teppich ging man sanft ins Innere des Hauses.
»Wir sind da!«, rief Mrs Avery. Ich blickte erwartungsvoll den Flur entlang, aber statt einer Person kam ein Hund auf uns zugelaufen. Der weiße Chow-Chow stürzte sich sofort auf Annette, und eine große graue Tigerkatze mit weißer Schwanzspitze, die gerade die Treppe heruntergekommen war, strich um die Beine ihres Bruders.
»Keine Angst«, sagte Mrs Avery zu mir. »Ich weiß, die beiden können etwas Erdrücken sein, wenn man Tiere nicht gewöhnt ist, aber die Thunix .«
Annettes Bruder nahm die Katze auf den Arm und rieb seine Wange an ihrem dichten Fell, und Annette kicherte wie eine Irre, weil ihr der Hund übers ganze Gesicht leckte. Ich konnte nicht glauben, dass Mrs Avery das erlaubte. Steckten Tiere nicht voller Keime und hatten ständig das Verlangen, einen zu beißen?
Mrs Avery bückte sich. »Du musst einfach nur deine Hand hinstricken, so«. Sie hielt der Katze ihre Hand hin. »Komm her, Tommy. Katzen beschnuppern fremde Menschen gerne erst einmal. Danach werdet ihr bestimmt gute Freunde.«
Nach einem Seitenblick auf Annette, die inzwischen – immer noch mit Jacke und Gummistiefeln bekleidet – auf dem Boden saß und ihren Kopf spielerisch in die Brust des Hundes rammte, traute ich mich, eine Frage zu stellen: »Haben sie keine … ?« Ich kannte das Wort nicht und tat so, als würde ich mich kratzen.
»Oh!«, sagte Mrs Avery. »Nein, die beiden haben keine Flöße. Siehst du?« Der Kater namens Tommy war näher gekommen und schnüffelte an ihrer Hand. Sie steckte den Finger unter sein schmales Halsband. »Das hält die Flöße fern.«
Meine Verwirrung war mir wohl anzusehen, denn sie fing an, sich wie ein Affe unter den Armen zu kratzen. Noch nie hatte ich einen Erwachsenen etwas derart Würdeloses tun sehen, schon gar nicht eine Frau.
»Kein Kratzen«, erklärte sie. Sie nahm die Hände wieder herunter. »Alles okay.«
Wir folgten Annettes kleinem Bruder, der bereits in der Küche verschwunden war. Dort wurde ich der Haushälterin vorgestellt, einer hageren weißen Frau, die so faltig war wie ein Stück Dörrfleisch.
Ich sagte »Guten Tag« und gab ihr die Hand.
»Na, wen haben wir denn da?«, erwiderte sie und legte den Kopf schief.
Sie machte uns einen Snack. Es waren Ritz-Cracker, die ich schon aus Hongkong kannte, aber sie nahm ein großes Stück hellen Käse aus dem Kühlschrank, benutzte ein Gerät aus Metall, das ich vorher noch nie gesehen hatte, und hobelte damit dünne Scheiben Käse ab, die sie anschließend auf die Cracker legte. Der Geschmack blieb mir noch lange im Gedächtnis: die eigenartige, fremde Schärfe des Käses im Kontrast zur buttrigen Knusprigkeit der Cracker.
Der
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