Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)
gesehen hatte, wie rote Haare oder Fausthandschuhe.
Wir schenkten Mr Al einen kleinen Holzelefanten aus China, der ihm Geld und ein langes Leben bescheren sollte. Bei ihm hatte Mama keine Angst, ein Geschenk auszusuchen, das ihr auch gefiel. Sie wusste, dass er verrückt nach allem war, was aus China stammte. Seine Frau war schon vor langer Zeit gestorben, und er verkündete, dass er sich eines Tages eine nette chinesische Frau suchen würde. Ich musste immer Mama für ihn fragen, ob sie nicht ein paar hübsche Freundinnen hatte und wie man »Ich liebe dich« auf Chinesisch sagte.
»Den bewahre ich neben meiner Kasse auf, damit er mir Glück bringt«, sagte Mr Al. Uns schenkte er eine kleine rote Schreibtischlampe aus seinem Laden, die ich auf den Tisch stellte, auf dem ich meine Hausaufgaben machte.
Wir hatten weder einen Weihnachtsbaum noch Lichterketten in unserer Wohnung, aber Mama gab sich große Mühe, für weihnachtliche Stimmung zu sorgen. Sie kaufte ein gebrauchtes Taschenbuch mit Weihnachtsliedern, die wir zusammen sangen. Einige davon kannte ich schon aus der Schule, und Mama konnte immerhin die Noten lesen, wenn auch nicht den englischen Text. Sie summte wortlos die Melodie, während ich laut und falsch auf Englisch sang. Dann versuchte sie, uns auf der Geige zu begleiten, aber es war viel zu kalt, und mit Handschuhen konnte sie nicht spielen.
Ich besaß keinen Weihnachtsstrumpf, aber an Heiligabend legte ich eine Socke von Mama auf den Tisch, weil die größer war als meine eigene. Am nächsten Morgen fand ich eine Orange darin und einen chinesischen roten Umschlag, der zwei Dollar enthielt – ein Vermögen. Mir war sofort klar, dass das nicht das Werk des Weihnachtsmannes gewesen sein konnte, sondern Mamas, aber das war mir genug.
Ein paar Tage nach dem westlichen Neujahrsfest fanden wir dann ein echtes Geschenk. Auf dem Weg zur U-Bahn kamen wir jeden Tag an einem großen Fabrikgebäude vorbei, und eines Morgens sahen wir einige Männer am Müllcontainer herumhantieren. Kurz darauf waren sie wieder verschwunden, und wir schauten nach, was sie weggeworfen hatten: mehrere Rollen des plüschigen Stoffs, aus dem man Stofftiere anfertigt. Das Gebäude musste eine Spielzeugfabrik sein.
Wir blieben beide stehen, gefesselt vom Anblick des warmen Stoffs.
»Vielleicht, wenn wir uns sehr beeilen …«, setzte Mama an.
»Nein, Mama, wir dürfen nicht schon wieder zu spät in die Fabrik kommen«, mahnte ich. »Wir müssen später wiederkommen.«
Während des ganzen langen Arbeitstages löcherte mich Mama mit Fragen: »Glaubst du, dass sich andere Leute für so etwas interessieren? Kommt heute die Müllabfuhr?«
Ich konnte ihr nur immer wieder antworten: »Ich weiß es nicht.« Wenn der Stoff am Abend weg war, würde sie mir die Schuld geben.
Aber als wir endlich aus der U-Bahn-Station kamen und zur Spielzeugfabrik rannten, sahen wir sofort, dass der Stoff noch da war. Mama lachte vor Freude über den wunderbaren Fund. Meterweise Stoff, der uns warm halten würde. Es handelte sich zwar um lindgrünen, kratzigen Kunstpelz, aber das war immer noch besser als alles, was wir sonst besaßen. Die Straßen waren menschenleer, und es war bitterkalt, aber Mama und ich kehrten noch mehrmals zum Container zurück, um so viele Rollen wie möglich nach Hause zu schleifen.
Mama nähte uns Bademäntel, Pullover, Hosen und Decken aus dem Plüschtierstoff. Sie bedeckte damit Teile des Bodens und der Fenster. Sie machte sogar Tischdecken daraus. Wir müssen einen urkomischen Anblick geboten haben, wie wir – zwei riesigen Plüschtieren gleich – in unserer Wohnung herumtapsten, aber wir konnten es uns nicht leisten, uns darüber Gedanken zu machen. Immer wieder habe ich mich seither gefragt, ob wir unseren ersten Winter ohne dieses Göttergeschenk überhaupt überlebt hätten. Der Stoff war schwer und teppichähnlich, weil er nicht zum Anziehen gedacht war, und wenn ich unter unseren neuen Decken schlief, schmerzten meine Glieder am nächsten Morgen regelrecht von ihrem
Gewicht. Aber wenigstens bedeckte der Stoff unsere ganzen Körper, im Gegensatz zu dem Kleiderstapel, den wir bisher als Decke benutzt hatten. Und er war warm.
Das chinesische Neujahrsfest fand in diesem Jahr Ende Januar statt. In der Nacht davor verschwinden alle Götter um Mitternacht und kehren jedes Jahr zu einer anderen Zeit und aus einer anderen Richtung zu uns zurück. Mama konsultierte den Tong Sing, um herauszufinden, wann wir wo
Weitere Kostenlose Bücher