Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)
es ins beschleunigte Intensivprogramm ihrer Highschool geschafft hatten.
Verglichen mit der staubigen, körperlichen Arbeit in der Fabrik war die Welt der Wissenschaft ein klares, logisches Paradies, in dem ich mich sicher fühlte. Zum reinen Vergnügen las ich Bücher über Themen, die wir in der Schule oberflächlich gestreift hatten: Aminosäuren, Zellkernteilung, Prokaryoten, DNA-Forensik, Karyotypisierung, monohybride Kreuzung, endothermische Reaktionen. Mathematik war die einzige Sprache, die ich wirklich verstand. Sie war unverfälscht, geordnet und vorhersehbar. Ich empfand es als zutiefst befriedigend, an mathematischen Aufgaben zu knobeln und darüber mein echtes Leben in der Wohnung und der Fabrik zu vergessen. Vermutlich war ich die einzige Schülerin, die sich auf die Einstufungstests freute, sie geradezu genoss.
Als ich meine Ergebnisse in den Händen hielt, kamen sie selbst mir unwahrscheinlich hoch vor. Ich war überglücklich, aber nach einigen Wochen im mathematisch-naturwissenschaftlichen Intensivprogramm bat mich Dr. Copeland in
ihr Büro. Mir schlug das Herz bis zum Hals. An diesen Ort hatte ich keine guten Erinnerungen.
»Kimberly, ich mache mir Sorgen, was deine Leistungen angeht«, sagte sie.
Mein Atem schien irgendwo in meinem Hals stecken zu bleiben. Was hatte ich diesmal falsch gemacht? Bisher hatte ich fast in jedem Test die volle Punktzahl erreicht. Um Zusatzpunkte zu sammeln, hatte ich ein Laborverfahren entwickelt, über das mein Biologielehrer geradezu ins Schwärmen geraten war: die Bestimmung von gelösten Substanzen, Lösungsmitteln, Lösung und Konzentration und die Simulation von Enzymaktivität mittels entwässerten Safts. »Gibt es Probleme mit meinen Noten?«
»Offen gestanden sind deine Noten ein bisschen zu gut.« Dr. Copeland starrte mich mit zusammengekniffenen Augen an, um meine Reaktion abzuschätzen.
Jetzt verstand ich: Sie hatte den Vorfall mit Tammy im letzten Jahr keineswegs vergessen. Meine Kehle war so zugeschnürt vor Angst, dass es mir schwerfiel, die Wörter herauszupressen: »Ich bin keine Betrügerin.«
»Das hoffe ich. Sämtliche Lehrer scheinen bisher von deiner Intelligenz überzeugt zu sein, und ich möchte ihnen gerne glauben. Aber noch nie hat ein Schüler deines Alters derart gute Ergebnisse bei den Einstufungstests erzielt. Und im Unterricht schlägst du dich auch überdurchschnittlich gut, wohingegen deine Leistungen in der Unterstufe weniger konstant waren. Ich weiß nicht, ob es dir bekannt ist, aber es ist schon vorgekommen, dass Prüfungsbögen entwendet wurden.« Das Misstrauen war ihr deutlich anzusehen. Sie beugte sich näher an mich heran. Als sie schließlich den Mund aufmachte, war ihre Stimme so leise, dass ich sie kaum verstand: »Ich war auch eine ziemlich intelligente Schülerin, blitzgescheit
sogar, und selbst ich habe nicht so schnell und so gut gelernt, wie du es zu tun vorgibst. Wenn du mir das Gegenteil beweist, freue ich mich natürlich, so ein brillantes junges Mädchen bei mir in der naturwissenschaftlichen Abteilung zu haben, aber … nun ja … du verstehst sicher, dass wir Gewissheit brauchen. Deshalb wirst du erneut einen Einstufungstest ablegen, und zwar mündlich, der vom gesamten mathematisch-naturwissenschaftlichen Lehrkörper durchgeführt wird. Jeder Lehrer wird seine eigenen Fragen beisteuern.«
Ich sagte nichts. Ich hatte panische Angst, alles zu verlieren, wofür Mama und ich gearbeitet hatten. Was, wenn ich die englischen Fragen nicht gut genug verstand? Schließlich würde der Test mündlich stattfinden. Was, wenn mir Fehler unterliefen oder ich einfach schlechter abschnitt als sonst? Dann würden die Lehrer fälschlicherweise zu dem Schluss gelangen, dass ich betrogen hatte, und ich würde die Schule verlassen müssen. Ich starrte Dr. Copeland an, aber ich wurde nicht mehr schlau aus ihrem Gesicht, das zu einem verschwommenen Fleck aus Formen und Licht geworden war.
»Ich will dir nichts Böses, Kimberly. Wenn du alle Aufgaben ehrlich beantwortest, hast du nichts zu befürchten.« Sie wandte sich wieder ihrem Schreibtisch zu.
Ich verließ langsam ihr Büro. Warum konnte ich nicht einfach so sein wie alle anderen?
»Alles okay bei dir?«, fragte Curt, der gerade Arm in Arm mit Sheryl vorbeikam.
Sheryl drehte sich stirnrunzelnd zu mir um. Vielleicht überraschte es sie genauso wie mich, dass Curt mit mir gesprochen hatte. Vermutlich war auch ihm mein letzter Besuch in diesem Büro wieder
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