Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)
eingefallen.
»Ja, klar«, antwortete ich und blinzelte ungläubig. »Danke.«
»Man sieht sich«, sagte er und ging davon.
9
I ch war zwar locker befreundet mit einigen Mitschülern, aber irgendwann stieß jede Freundschaft unweigerlich an eine unsichtbare Grenze. Da war zum Beispiel Samantha, die ein ziemlicher Snob war. In der Schulkantine bat ich die Frau an der Ausgabe einmal in meinem vorsichtigen Englisch um ein Käsecroissant, woraufhin mich Samantha mit übertrieben französischem Akzent korrigierte: »Croi – san. Es ist so unkultiviert, das t auszusprechen.« Und Tammy tat in letzter Zeit so, als existierte ich gar nicht.
Außerdem gab es da noch Lucy, die verrückt nach Jungen war und Dinge sagte wie: »He, ich weiß, was wir machen! Wir ziehen unsere kürzesten Miniröcke an und gehen shoppen! Als ich letzten Freitag aus war und meinen Minirock anhatte, haben mich die Typen vollgesabbert vor Geilheit!«
Letzten Endes blieb Annette meine einzige echte Freundin. In der neunten Klasse wurde sie »politisch«, wie sie es nannte. Sie fing an, sich Buttons anzustecken, und versuchte einen ständig dazu zu bewegen, Petitionen zu unterschreiben. Mit ihrem politischen Interesse ging auch ein neuer Freundeskreis einher, der außerhalb der Schule hauptsächlich aus den Mitarbeitern eines von ihr ins Leben gerufenen Anti-Rassismus-Newsletters bestand: einige ältere Stipendiaten, ein schwedischer Austauschschüler, ein paar Jugendliche mit Punkfrisuren. Sie bat mich, Petitionen gegen das Apartheidsregime in Südafrika zu unterschreiben, was ich auch tat. Als
sie allerdings von mir verlangte, sie auf feministische Demos zu begleiten, musste ich passen. Sie wurde extremer und prangerte in ihrem Newsletter den Mangel an nicht weißen Schülern an der Harrison an. Sie fing an, sich Kommunistin zu nennen. Wie hätte ich bei meiner Familiengeschichte an den Kommunismus glauben können? Noch schwerer wog allerdings, dass ich meine Tage damit verbrachte, möglichst normal zu erscheinen, und mich daher auf keinen Fall zu weit aus dem Fenster lehnen wollte.
Die Annette, die ich von früher kannte, ließ sich leicht ablenken und war erfüllt von konträren, widersprüchlichen Passionen, die schnell von einem Extrem ins andere springen konnten. Damals schien sie einfacher gestrickt zu sein und viel unkomplizierter. Ihre Gedanken hatten einzig um sie selbst und ihre behagliche kleine Welt gekreist. Jetzt jedoch kam plötzlich eine ernsthaftere Annette zum Vorschein, eine, die anfing, schwierige Fragen zu stellen.
»Wie kommt es, dass wir uns so nahestehen«, fragte sie einmal, »und ich trotzdem noch nie bei dir zu Hause war?«
»Meine Wohnung ist winzig. Du würdest dich gar nicht wohlfühlen dort«, antwortete ich.
»Aber das ist mir doch egal.«
»Meiner Mutter ist es nicht egal. Warte einfach noch etwas, dann frage ich, ob du kommen kannst, ja?« Ich hoffte, dass sie sich damit abspeisen ließ und die ganze Sache schnell wieder vergaß. Jahre später bewies mir Annette, dass ich mich geirrt hatte: Sie hatte es nie vergessen.
Dass Schweigen auch ein Schutz sein kann, verstand Annette nicht. Aus meiner Situation gab es ohnehin keinen Ausweg, deshalb konnte ich es mir auch nicht leisten, deswegen zu jammern. Über meine Probleme zu sprechen hätte das ganze Ausmaß meines Elends nur umso deutlicher ausgeleuchtet
und nicht nur ihr, sondern auch mir gezeigt, was sich nur ertragen ließ, weil es im Schatten lag. Ich konnte mir keine derartige Blöße geben, nicht einmal ihr zuliebe.
In gewisser Hinsicht verschlimmerte es unsere Situation noch, dass wir jetzt ein Telefon hatten. Einmal kam mich Annette in der Bibliothek besuchen, weil ihr langweilig war. Sie kam auf eine Hausaufgabe für Sozialkunde zu sprechen, ein Fach, das wir in diesem Jahr gemeinsam belegten. Ihr Referat hatte den Titel »Marx und Aristoteles: Vom Wesen der Moral«. Ich hingegen hatte noch keine Zeit gehabt, mit meinem Referat anzufangen. Ich wusste noch nicht mal, wovon es handeln sollte.
»Gestern Nachmittag habe ich versucht, dich anzurufen.« Sie schob sich eine Locke hinters Ohr. »Warum bist du nach der Schule nie zu Hause?«
Ich bemühte mich um einen unverfänglichen Gesichtsausdruck, während ich nachdachte. »Was meinst du?«
»Man erreicht dich immer erst so spät. Wo bist du den ganzen Tag?«
»Nirgendwo. Manchmal brauche ich ewig für den Heimweg.«
Annettes volle Lippen wurden schmal. »Kimberly, sind wir nun beste Freundinnen
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