Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)
brach dann ab, aber da hatten wir bereits die Aufmerksamkeit eines Verkäufers erregt, trotz unserer einfachen Kleidung.
»Sie spielen hervorragend«, lobte er. »Dieser Flügel hat einen wunderbaren Klang, finden Sie nicht?«
Ich überlegte, wie wir ihn möglichst höflich wieder loswerden konnten, aber Matt kam mir zuvor: »Absolut«, sagte er auf Englisch. »Vielen Dank, aber wir schauen uns nur um.«
Ausnahmsweise hatte mir mal jemand die Last der Verantwortung abgenommen.
Wir schlenderten weiter durch die Tei-Am-Si-Arena und hielten Ausschau nach Wolkenkratzern.
»Meine Güte, da muss ich ja dreimal hochsehen, bis ich die Spitze erkennen kann«, lachte Mama und nahm ein besonders hohes Gebäude in Augenschein.
»Ich kann es mit den Händen umfassen«, prahlte Matt und machte einen Schritt zurück, um Maß zu nehmen.
Das brachte mich auf ein Thema, das ich eigentlich lieber vermieden hätte. Aber ich musste es einfach wissen: »Was passiert jetzt eigentlich mit Mr Pak?« Da Matt in Chinatown wohnte und viele Leute aus der Fabrik persönlich kannte, war er fast immer über den neusten Tratsch auf dem Laufenden.
»Er kommt nicht mehr in die Fabrik zurück. Die Verbrennungen sind sehr schlimm, und seine Frau findet, dass die Arbeit zu gefährlich ist.«
»Und was wird jetzt aus ihm?«
»Seine Frau arbeitet in dieser Schmuckfabrik Ecke Centre und Canal Street, und ich könnte mir vorstellen, dass er auch dort anfängt, sobald die Wunden verheilt sind.«
»Und was macht er dort?«
»Perlenarmbänder und anderen Modeschmuck. Man kann sich die Arbeit mit nach Hause nehmen, aber sie ist noch schlechter bezahlt als in unserer Fabrik. Und man braucht sehr flinke Hände.«
Ich sah Mama an. War das vielleicht eine Möglichkeit, der Kleiderfabrik zu entfliehen?
Sie schüttelte den Kopf. »Du weißt doch, wie kalt es bei uns zu Hause wird, ah- Kim!«
Ich nickte. In unserer ungeheizten Wohnung wären wir nie in der Lage gewesen, Perlen mit einer Nadel aufzufädeln.
Zum krönenden Abschluss schauten wir uns die Freiheitsgöttin an. Mama versuchte, Matts U-Bahn-Marken zu bezahlen, aber er kam ihr zuvor.
»Wir steigen nicht direkt bei der Freiheitsgöttin aus«, erklärte
Matt. »Die Fähre dorthin ist zu teuer. Stattdessen nehmen wir die Staten-Island-Fähre, die kostet nur fünfundzwanzig Cent. Von der haben wir einen noch besseren Blick.«
»Perfekt«, lobte Mama.
Wir bestiegen die große gelbe Fähre, die mich an die Fähren im Hafen von Kaulun erinnerte. Matt führte uns aufs Oberdeck, aber Mama fand es zu windig und ging lieber wieder zurück nach unten.
Es war herrlich, neben Matt an der Reling zu stehen, wo der kühle Wind die Hitze vertrieb. Vor uns erstreckte sich der Ozean.
»Gleich haben wir einen erstklassigen Blick«, versprach Matt und ging nach unten, um Mama zu holen. Ich staunte, wie ein so harter Kerl gleichzeitig so fürsorglich sein konnte.
Als endlich die Freiheitsgöttin auftauchte, hielt ich die Luft an. Sie war so nah und so prachtvoll. Mama und Matt standen direkt neben mir, und Mama drückte meine Hand.
»Wie lange haben wir davon geträumt«, sagte sie.
»Jetzt sind wir hier«, gab ich zurück. »Wir sind wirklich in Amerika.«
Matt machte ein nachdenkliches Gesicht. »Erinnert sie euch nicht auch an Kuan Yin?«
Wir nickten.
Als Mama und ich später wieder in unserer Wohnung waren, sagte sie zu mir: »Ich hatte unrecht, was diesen Wu-Jungen betrifft. Er sieht nicht nur gut aus, er hat auch ein menschliches Herz.« Sie meinte, dass er Mitgefühl und Tiefe besaß.
Ich antwortete nicht, aber ich vergrub das Gesicht im Kopfkissen und dachte an Matt.
Die neunte Klasse bildete den Übergang zur Highschool. Die meisten von uns hatten schon die siebte und achte Klasse an
der Harrison verbracht, aber es kamen auch ein paar neue Schüler hinzu, und so begann das Schuljahr mit Einstufungstests in Mathematik und Naturwissenschaften, um zu ermitteln, auf welchem Stand wir waren und in welche Förderstufe wir eingeteilt wurden. Vor allem die ehrgeizigen Schüler sahen den Tests mit wachsender Nervosität entgegen, weil die Plätze im mathematisch-naturwissenschaftlichen Intensivprogramm limitiert und heiß begehrt waren. Obwohl die Tests eigentlich eine simple Beurteilung unserer Fähigkeiten sein sollten, nahmen sich viele Schüler Nachhilfelehrer, weil ihnen der Unterricht als Vorbereitung nicht reichte. Es ging das Gerücht um, dass manche Universitäten nur Studenten nahmen, die
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