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Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Gorokhova
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mit einem kleinen, schuldbewussten Lächeln die Treppe hinunter, zurück in den trunkenen Lärm unserer Wohnung.
    Als ich mich während meines ersten Jahres an der Universität |308| mit Nina über Sex unterhielt, erzählte ich ihr von Gennadi und dem Treppenabsatz und dass mir das Ganze wie eine Erscheinung vorgekommen sei. »Mein Kopf drehte sich«, sagte ich, ohne den Riesling zu erwähnen. »Er war zwanzig Jahre älter als ich und roch nach Zigarettenrauch, sogar sein Brusthaar, sogar das Hemd, das er anhatte.« Nina blinzelte durch unseren eigenen Zigarettenrauch hindurch und stieß eine kleine Mentholwolke aus. »Du suchst nach deinem Vater«, sagte sie und warf mir über ihre Brille hinweg einen Blick zu, der eine Spur zu einschüchternd wirkte, um eine Antwort zu erfordern.
    Habe ich im Jahr darauf nach meinem Vater gesucht, als meine Nachforschungen mich einen Schritt weiter, zu einer Dosis echtem Sex führten? Das unverblümte, zischende Wort
seks
wird so selten in der Öffentlichkeit verwendet, dass es wie ein Fluch klingt. In unserem Geschichtsbuch der zehnten Klasse   – der einzigen Stelle, wo ich es je gedruckt sah   – wurde es unter den abstoßenden Merkmalen der bürgerlichen Gesellschaft aufgelistet, neben Gewalt und Arbeitslosigkeit. Ich schmeichelte mich in das Bett eines charismatischen Theaterregisseurs, der die Amateurschauspieltruppe der Universität leitete, indem ich beteuerte, ich sei ganz verloren und bedürfe seiner Anleitung. Danach betrachtete ich mich in einem Spiegel und versuchte, eine wesentliche Veränderung zu erkennen, ein Zeichen für unverzügliche Reife und Weisheit. Ich konnte keinerlei Unterschied erkennen, nicht die geringste Veränderung, die mich als Erwachsene kennzeichnete, der ein Platz unter den Erleuchteten und Erfahrenen gebührte. Es war zwar nicht so abstoßend, wie das Lehrbuch gewarnt hatte, hatte mich jedoch auch nicht auf eine höhere Ebene des Seins und Denkens befördert. Das einzige Resultat war offenbar, dass es mich zynischer werden ließ: Dieses verderbte, wohlgehütete Geheimnis lief tatsächlich auf nicht mehr als ein paar Minuten Unbehagen |309| hinaus. Als die Lichter ausgingen, war auch das Charisma des Regisseurs verblasst. Trotz all seiner angeblich so verlockenden Gefährlichkeit war Sex demnach nichts Außergewöhnliches.
    Da ist es schon etwas ganz anderes, mit Boris zu schlafen, wobei ich seinen ukrainischen Akzent und sein Gewetter über den Krieg und Babi Jar vergesse. Er hat einen herrlichen zimtfarbenen Teint, und in der Dämmerung sehe ich seinen Körper durch das grüne Prisma des Wassers schimmern, wenn er inmitten der Felsen nach Krabben sucht. Es ist einfach, mit Boris zusammen zu sein, so unkompliziert, wie in dem hiesigen Lebensmittelgeschäft nach Tomaten anzustehen, so elementar, wie am Strand zu leben. Dabei fühle ich mich nach wie vor jedes Mal, wenn er eine Decke zusammenrollt und wir den Abhang hinaufsteigen, schuldig. Genau das verbinde ich in meiner Vorstellung mit Sex   – eine tiefes Schamgefühl. Etwas, das unerlaubt im Dunkeln geschieht.
    Dennoch hätte ich auf meiner Ansichtskarte nach Hause wenigstens andeutungsweise ehrlich sein und schreiben können, dass es mir ein Junge aus Kiew angetan hat. Aber das tat ich nicht. Eine emotionale Schwäche wie Verliebtsein würde ich nie und nimmer eingestehen. Sie ist verliebt, würde meine Mutter mit einem verständnisvollen Seufzer sagen, der ihr Mitgefühl zum Ausdruck brächte. Sie würde mich bemitleiden oder sich um mich sorgen oder mir Ratschläge erteilen, von denen ich nichts wissen wollen würde. Falls mir, zurück in Leningrad, je danach zumute sein sollte, Boris wiederzusehen, würde ich mir einfach eine Fahrkarte nach Kiew kaufen und meiner Mutter erzählen, dass ich ein paar Freunde besuche. Anstatt über Boris oder Verliebtheit oder Liebe zu sprechen, würden wir über den Preis einer Bahnfahrt diskutieren und darüber, ob im Zug Bettwäsche zur Verfügung gestellt würde.
    Meine Schwester hat keinerlei Bedenken, ganz offen zu verkünden, |310| sie sei verliebt. Als sie im vergangenen Sommer auf Theatertournee war, schrieb sie uns jeden zweiten Tag einen Brief, aus dem hervorging, dass sie sich nach dem Sohn des künstlerischen Leiters verzehrte. Damit bewirkte sie nur, dass meine Mutter betroffen mit einer Nachbarin tuschelte und sich in traurigen Tiraden erging, der Sohn des künstlerischen Leiters würde Marina nie und nimmer heiraten, da sie zu alt oder

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