Goodbye Leningrad
sich das Ganze wohl auf Ninas und mein Ansehen in der Philologischen Fakultät auswirken mag. Wir gelten als gewissenhaft und vertrauenswürdig, |303| ja als dermaßen verantwortungsbewusst, dass unsere leitende Englischdozentin vor Kurzem davon sprach, uns eventuell im Sommer beim Russischprogramm der Universität für amerikanische Studenten als Lehrkräfte zu beschäftigen. Es sei die höchste Auszeichnung, Studenten aus dem Ausland unterrichten zu dürfen, sagte sie. Vor allem aus einem so ausländischen wie den Vereinigten Staaten. Und nun, da die Hunde sich in die trockene Erde des Abhangs krallen und an ihren Ketten keuchen, scheint diese Aussicht auf einmal so verschwommen zu sein wie der dunstige Horizont über dem sich bis zur Türkei erstreckenden Meer.
Die Schäferhunde ziehen vorwärts; die Soldaten zerren sie zurück. Die Hunde bleiben stehen, nehmen Witterung auf und streben in Richtung des Topfes auf unserem Campingkocher, in dem das Fett aus einer Dose Rindfleisch gerade die frisch gekochten Kartoffeln zu überziehen beginnt. Ein paar Minuten lang sieht es so aus, als seien auch die Soldaten am Inhalt des Topfes interessiert, denn sie traben ihren Hunden hinterher, als hätten sie ein gemeinsames Ziel, wobei ihre Stiefel im Gleichschritt über die Kiesel knirschen.
»Händigt ihnen nichts aus«, befiehlt Boris. »Sagt, unsere Pässe seien noch auf der Milizwache.«
»Bietet ihnen etwas Wein an«, sagt Nina. »Das wäre eine freundliche Geste.«
Nachdem wir den Tag damit verbracht haben, nach Sudak zu laufen und auf dem Fußboden der Wache zu hocken, ist den anderen nicht gerade danach zumute, dem Gesetz freundlich zu begegnen.
Die Soldaten bleiben stehen und machen sich ein Bild von der Lage: zehn etwa gleichaltrige junge Leute in Badesachen, die Wein aus Bechern herunterkippen; eine leere Konservendose mit Schmorfleisch, wie sie es, seit sie zwölf waren, nicht |304| mehr gesehen haben. Es ist genau das, was sie sahen, als sie in die Bucht spähten: Wein und Fleisch; ihre Ferngläser haben sie nicht getäuscht.
»Setzen Sie sich doch zu uns«, sagt Nina. »Hätten Sie gern etwas Wein?«, fragt sie und spült zwei Becher im Meer aus.
Die Soldaten, die nicht älter als neunzehn oder zwanzig aussehen, befehlen ihren Hunden sich hinzulegen, worauf die Schäferhunde, deren Nasen die Luft nach Essensdüften sondieren, unwillig gehorchen. Die Soldaten zwängen sich in unseren Kreis und stoßen mit ihren gefüllten Bechern mit uns an, und nicht einmal Boris glaubt noch daran, dass sie gekommen sind, um uns zu verhaften.
Sie heißen Witja und Serjoga. Witja ist mager und groß; Serjoga ist so stämmig, als sei er aus dem über den Rand der Bucht vorspringenden Felsen gehauen. Sie kommen beide aus Simferopol, wo der Zug Nina und mich zwei Wochen zuvor abgesetzt hat, und können von Glück sagen, dass sie für die zwei Jahre Wehrdienst nicht nach Usbekistan oder Kamtschatka geschickt worden sind. Sie hätten uns schon früher aufsuchen wollen, aber dies sei das erste Mal, dass ihr Stabsoffizier unterwegs sei, er wolle neue Uniformen bestellen. »Da«, sagt Witja, beugt den Arm und zeigt auf seinen spitzen Ellbogen, der aus seinem Khakihemd herausschaut. »Ja«, bestätigt Serjoga, der seine Stiefel auszieht, um deren durchlöcherte Sohlen zu zeigen. Seine Füße sind mit
portjanki
umwickelt, Stofflappen, die anstelle von Socken getragen werden und so aussehen und riechen, als müssten auch sie dringend gewechselt werden.
Sie verdienen drei Rubel monatlich, so viel wie der sich zusehends leerende Weinkanister neben dem Campingkocher gekostet hat.
Wir reichen ihnen Schalen mit Kartoffeln und Dosenfleisch; wir schenken Wein nach. Jura stimmt seine Gitarre und singt |305| Lieder über den Krieg von Wladimir Wyssozki, die alle auswendig kennen. Als sich hinterrücks die Dunkelheit heranschleicht und ohne Vorwarnung über uns herfällt, trotten Witja und Serjoga, zum ersten Mal seitdem sie vier Monate zuvor hierhergeschickt worden sind, mit Wein abgefüllt und gesättigt von dannen, widerstrebend gefolgt von den Hunden, die ihre Ketten hinter sich her über die Kiesel schleifen.
»He, ihr habt eure Gewehre vergessen«, johlt Boris ihnen hinterher.
»Das war ja eine beeindruckende Armee«, sagt Nina. »Hoffentlich überfallen sie uns nicht noch einmal.«
Wir werden nie erfahren, ob Witja und Serjoga tatsächlich neue Uniformen erhalten haben. Von nun an sehen wir sie nur noch oben auf dem Berg, als
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