Goodbye Leningrad
Beispiel noch nie alle vier Bände von ›Krieg und Frieden‹ gelesen. Ich habe die Liebesszenen überflogen – wobei ich bei Verliebtheiten, durchbrennenden Paaren und Zerwürfnissen länger verweilte –, jedoch sämtliche Schlachten übersprungen. Für mein Universitätsexamen in ausländischer Literatur habe ich nie auch nur eine Seite von Marlowe oder Cervantes gelesen, sondern lediglich die Vorlesungen des Professors über den Einfluss ihrer Werke wiedergekäut. Alles, was ich über die Geschichte Russlands – die echte Geschichte von vor 1917 – weiß, stammt aus meinem Lehrbuch der weiterführenden Schule, in dem der Jahrhunderte währenden russischen Monarchie weniger Platz eingeräumt ist als den achtundfünfzig Jahren Sowjetmacht. Ich würde es Nina oder irgendeinem anderen gegenüber natürlich nie zugeben, aber in Wahrheit bin ich eine Dilettantin. Ich eigne mir alles nur bröckchenweise an, ohne mich je mit dem Ganzen zu belasten.
|301| Auf dem Berg oberhalb unserer Bucht gibt es einen Grenzkontrollposten, denn jenseits des Schwarzen Meeres, in hundert Kilometern Entfernung, befindet sich ein fremdes Land, die Türkei. Wegen dieser geografischen Nähe ist das Übernachten am Strand gesetzeswidrig. Wenn wir hochblicken, sehen wir manchmal, wie sich Soldaten mit Schäferhunden gegen den Himmel abzeichnen, als würden sie über das Meer spähen, um die Geheimnisse unseres kapitalistischen Nachbarn zu entschlüsseln.
Es ist Abend, die Sonne verschmilzt soeben mit dem Rand der Klippen, und wir hocken um den Campingkocher, auf dem Muscheln in einem Topf mit Meerwasser köcheln, und trinken Wein aus der Gegend, den Boris in einem Fünf-Liter-Benzinkanister aus Sudak mitgebracht hat. Ich kann auf dem Berg die Silhouetten von zwei Soldaten ausmachen, aber dieses Mal stehen sie nicht einfach nur da oder bewegen sich im Umkreis des Grenzpostens. Sie kommen den Pfad hinunter. Vielleicht haben sie ja beschlossen, sich nach Sudak aufzumachen, um ebenfalls fünf Liter Wein zu erstehen, doch anstatt zu schrumpfen, werden ihre Gestalten immer größer und kommen deutlich näher, weshalb ich Boris anstoße und wir nun alle die beiden uniformierten Männer anstarren, die von ihren wolfsähnlichen Hunden den Abhang hinunter in unsere Bucht gezerrt werden.
Wir sind inzwischen ganz still geworden, und selbst Jura hat aufgehört, auf seiner Gitarre zu klampfen. Jeder erinnert sich noch gut an den vergangenen Mittwoch, als sich um vier Uhr morgens ein Boot tuckernd unserem Strand näherte und zwei Männer mit Milizionärskappen und einem Megafon aus der feuchten Dunkelheit heraustraten und uns mit Taschenlampen blendeten. Sie forderten uns auf, unsere Inlandspässe vorzuzeigen, Ausweise, die wir dabeihaben müssen, wenn wir mit |302| dem Zug fahren wollen. Als wir die Dokumente unwillig aus unseren Rucksäcken hervorholten, rissen sie sie uns aus den Händen. Ich wäre vor Angst zur Salzsäule erstarrt, wenn Boris mir nicht erzählt hätte, dass sich dasselbe bereits im letzten und vorletzten Jahr ereignet habe. Es müsse sich um ein offizielles Ritual handeln, sagte er. Die Milizionäre brüllten und schubsten uns und stürmten mit knirschenden Schritten und ernsten, selbstgefälligen Mienen über den Strand, als stellten unsere auf den Kieseln verstreuten Decken eine unmittelbare Bedrohung für die nationale Sicherheit dar.
»Wie bekommen wir unsere Pässe zurück?«, rief Boris.
»Wir sehen uns morgen auf der Wache«, kläffte der Mann mit dem Megafon und trat gegen Boris’ Rucksack.
Am darauf folgenden Tag gingen wir zu Fuß die sieben Kilometer nach Sudak und verbrachten fünf Stunden sitzend auf dem Fußboden im Gang der Wache, um auf die Rückgabe unserer Pässe zu warten, die uns schließlich um sechs Uhr ausgehändigt wurden, als der diensthabende Milizionär nach Hause gehen musste. Dann entdeckten wir den Wein, der literweise aus Milchtanks verkauft wurde.
Unser allererster Gedanke ist daher, dass die Miliz die Grenzkontrolle aufgefordert hat, uns durchs Fernglas zu beobachten, um sicherzugehen, dass wir tatsächlich wie befohlen unsere Sachen zusammenpacken und den Strand räumen. Und da sie sehen, dass wir, anstatt zu verschwinden, aus Benzinkanistern Wein trinken, haben sie das Militär mobilisiert, um uns gewaltsam fortzuschaffen. Jetzt kommen sie mit abgerichteten Hunden und geschulterten Gewehren zu uns. Zum Glück bringen sie keine Panzer mit.
Ich versuche mir auszumalen, wie
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