Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Gorokhova
Vom Netzwerk:
Umrisse gegen den Himmel, zu fern, um die Löcher in ihren Hemden oder Stiefeln zu erkennen, sogar zu fern, um ihnen zuzuwinken.
     
    Als Antwort auf meine Ansichtskarte aus Nowyi Swet schickt meine Mutter einen Brief postlagernd an das örtliche Postamt. Auf meiner Karte habe ich geschrieben: Mir geht es gut hier in der neuen Welt. Natürlich habe ich Boris nicht erwähnt. Es war für meine Mutter schockierend genug, zu erfahren, dass ich am Strand lebte; ich konnte ihr unmöglich mitteilen, dass ich mit einem Mann am Strand lebte. Sex ist ein dunkles, anstößiges Geheimnis, über das man nicht spricht. In unseren vom staatlichen Verlag Progress gedruckten Büchern können ein Mann und eine Frau Rekorde bei der Stahlproduktion brechen oder zum Schutz eines Kollektivs ihr Leben aufs Spiel setzen, aber sie werden niemals im selben Bett liegen. Western werden zu harmlosen russischen Fassungen synchronisiert, indem anzügliche Szenen einfach herausgeschnitten werden. Sophia Loren und Marcello Mastroianni dürfen sich zwar küssen, |306| aber man bekommt sie dabei nur von hinten und nie länger als zwei Sekunden zu sehen.
    Die anatomischen Schaubilder meiner Mutter vom menschlichen Fortpflanzungssystem lassen trotz der unverblümten Beschriftungen ihrer einzelnen Bestandteile nicht im Mindesten erkennen, was Sex so verwerflich macht. Eine dermaßen finstere Kraft muss aus Filmen entfernt werden und darf in unseren Büchern nur ja nie erwähnt werden. »In der Sowjetunion haben wir keinen Sex«, sagte eine strenge Frau vom Kulturministerium neulich in einem Fernsehinterview, als ein französischer Reporter ihr eine provozierende Frage zu Lelouchs Film ›Ein Mann und eine Frau‹ stellte, der gerade in russischer Synchronfassung in unseren Kinos angelaufen war. Könnte es sein, dass ausgelassener, unbefangener Sex zusammen mit sozialer Ungleichheit und guten Schuhen von der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution endgültig ausgemerzt worden ist?
    Über Sex weiß ich mehr als über Babi Jar. Trotz des in meinem Land herrschenden Tabus und des Schweigens meiner Mutter, oder vielleicht gerade deswegen, habe ich mich daran gemacht, das Thema auf eigene Faust zu ergründen. Gegen Ende der neunten Klasse, kurz bevor ich sechzehn wurde, wollte ich unbedingt mehr erfahren. Als meine Mutter in jenem April zu Tante Musa in die Provinz reiste, lud meine Schwester ihre Schauspielerfreunde zu einer Party in unsere Wohnung ein. Die Schauspieler brachten Wein mit, und ich trank sauren, lauwarmen Riesling aus einem Glas, das sonst nur zu besonderen Anlässen benutzt wurde. Klavierklänge dröhnten und trillerten durch die Luft, geschulte Stimmen schwangen sich die Tonleitern empor, auf den Rauchwolken schwebte Gelächter. Der Riesling machte mich glücklich und furchtlos. Ich näherte mich hüftenschwingend dem großen Gennadi mit den dunklen |307| Augen, der vor Kurzem in einem Film mitgespielt hatte, der die Mädchen in meiner Klasse zu ihren Taschentüchern greifen ließ, und nahm auf dem Diwan neben seinem kräftigen Ellbogen Platz. Er schenkte mir Wein nach; er schlug vor, hinaus auf den Treppenabsatz zu gehen, um ein wenig frische Luft zu schnappen.
    Ich lehnte an der Wand auf dem Treppenabsatz zum Speicher; ich musste Luft holen, um unter seinen Pranken das Gleichgewicht zu halten. Sein nach Wein riechender Mund presste sich auf den meinen; seine Zunge klemmte zwischen meinen Zähnen. Während ich mit geknebeltem Mund dastand und seine Finger unter meinen BH glitten, überlegte ich, wie lange ich es wohl aushalten würde, ohne Luft zu holen. »Vergiss nicht«, ein törichter Gedanke schoss mir durch den Kopf, als Gennadi sein Gesicht meinen Brüsten näherte, »das ist es, was die Männer wollen.«
    Sein Kopf pendelte zwischen meinem Gesicht und meiner Brust und wischte über meine Haut, die er mit einem alkoholhaltigen Zigarettengeruch überzog. Da ich nicht wusste, was ich mit meinen Händen machen sollte, legte ich sie um seinen Hals, während er meine Lippen in seinem Mund umstülpte und mich mit seinen Hüften gegen die Wand drängte. Auf einmal hielt er so plötzlich inne, wie er begonnen hatte, und ich stand da und starrte in sein offenes Hemd auf ein Büschel schwarzes Brusthaar. Ich ließ meine Arme sinken und presste meine feuchten Handflächen gegen die Wand. Meine Lippen fühlten sich geschwollen und aufgesprungen an und meine Brustwarzen ganz kühl von der Luft. Er löste meine Hände von der Wand und führte mich

Weitere Kostenlose Bücher