Goodbye Leningrad
Schauspielerin sei, und seufzte und jammerte, Marina hätte sich lieber an der Medizinischen Hochschule bewerben sollen. Aber gerade weil sie Schauspielerin ist, macht es meiner Schwester nichts aus, ihr Herz auszuschütten, während das gesamte Stockwerk unseres Wohnblocks mithört. Sie ist furchtlos; sie ist über jeden Klatsch erhaben; sie kennt keine Angst. Und ich? Lieber würde ich sterben, als meiner Mutter die Annehmlichkeit zu verschaffen, meinetwegen zu seufzen und mich zu bemitleiden. Wie meine Großmutter schon sagte: An das, was in dir ist, kann niemand rühren.
In ihrem Brief schreibt meine Mutter, ihr Bruder, mein Onkel Wowa, der den Krieg überlebt hat und inzwischen in der Stadt Rjasan wohnt, mache nur fünf Kilometer von da, wo ich mich aufhalte, Urlaub in einem Erholungsheim, in das er, ein Kriegsveteran, geschickt worden sei. Vielleicht sei es mir ja möglich, ihn zu treffen, schreibt sie und lässt mich seine Telefonnummer auf der Krim wissen.
Es macht mir nichts aus, Onkel Wowa zu treffen. Ich kenne ihn vor allem aus Briefen und Geburtstagskarten mit Gedichten, die er mit Vorliebe verfasst. Es sind amateurhafte Gedichte, in denen jedoch ab und zu eine starke Zeile vorkommt, eine Zeile, die in die Tiefe hinabsinkt und etwas aufrührt, über das ich schon nachgesonnen habe. Deshalb tue ich seine Gedichte nicht so ab wie die meiner Tante Musa, die aus beliebigen zwei Wörtern, die ihr in den Sinn kommen, Reime verfasst, die sie |311| uns dann auf glänzenden, mit eingeprägten Rosen verzierten Karten schickt.
Es würde mir auch nichts ausmachen, mich einen Tag lang von unserem Strand zu entfernen. Selbst das salzige, warme, grüne Meer kann bisweilen eintönig werden, wenn man vier Wochen lang nichts anderes zu sehen bekommt.
Ich rufe meinen Onkel an, und wir verabreden uns an der Bushaltestelle in dem Dorf, in dem er sich aufhält, dem auffälligsten Treffpunkt, der uns einfällt. Ich bringe ihm eine Flasche Sekt aus Nowyi Swet mit, von einem der beiden einzigen Weinberge der Gegend, aus deren Trauben Sekt hergestellt wird. Es ist ein echter Jahrgangssekt, der ausschließlich für den Export vorgesehen ist, mit einem aufwendig gestalteten Etikett, wie ich es noch nie gesehen habe, nicht der übliche
Sowjetskoje -Sekt
, der nur vier Monate gären darf, bevor er in die Läden gelangt. Der für den Export bestimmte Sekt stammt von einem Lastwagenfahrer, den Nina und ich angehalten hatten, weil wir Benzin für unseren Campingkocher brauchten, einem großzügigen Mann, der uns fünf Liter staatseigenes Benzin abpumpte und den wir zu Muscheln und Wein an den Strand einluden.
Onkel Wowa steht lächelnd am staubigen Straßenrand. Sein Lächeln ist ein wenig schief: Der rechte Mundwinkel scheint an einem unsichtbaren Faden zu hängen, umgeben von vernarbter, beinahe weißer Haut, die von einer Verbrennung herrührt. Ich hatte immer angenommen, die verbrannte Haut sei eine Trophäe aus dem Großen Vaterländischen Krieg, und mir vorgestellt, wie er aus einem brennenden Panzer klettert oder Granaten in Bataillone vorrückender Deutscher wirft. Doch im vergangenen Jahr habe ich erfahren, dass er sich sein Gesicht als Elfjähriger bei einem Schulunfall im Chemieunterricht verbrannt hat. Er sei im Krankenhaus sehr unglücklich gewesen, erzählte meine Mutter, und habe bei jedem Verbandswechsel |312| vor Schmerzen aufgeheult, da die Binden an der Wunde festgeklebt und mit dem Gewebe verbrannte Hautfetzen abgerissen worden seien. Dann habe ein findiger Chirurg die Idee gehabt, meiner Großmutter aufzutragen, Schokoladentafeln zu kaufen, ganz gleich wie teuer oder wie schwer sie zu beschaffen seien. Nachdem Wowa die Schokolade aufgegessen hatte, habe der Chirurg die Silberfolie, in die sie eingewickelt war, sterilisiert und anstelle des Verbandes zur Versorgung der Wunde verwendet. Die Haut sei nicht an der Folie festgeklebt; der Geschmack der Schokolade sei köstlich gewesen, da sie eine Seltenheit war, und Wowa habe sich in Windeseile erholt.
»Schwarz wie ein Neger«, sagt mein Onkel und mustert mich mit seinem schiefen Lächeln.
»Wir leben am Strand«, sage ich. »Wir sind alle schwarz.«
»Jungs und Mädchen zusammen?«, fragt er augenzwinkernd und tut so, als machte er ein ernstes Gesicht.
Ich mag meinen Onkel. Anstatt wie meine Mutter zu seufzen und wegen meines Lebens am Strand mit lauter Jungs besorgt zu sein, zwinkert er nur und fragt mich über die Sektflasche aus, die ich bei mir habe. Als
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