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Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Gorokhova
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mich, dass der gut aussehende Wolodja die Erwachsenendinge gerade mit Sina anstellt, die so strähniges Haar hat und mich einfach ignoriert, die so tut, als würde sie in ihr Mikroskop starren, wenn er nicht in der Nähe ist. Vor allem aber bin ich frustriert, weil dieses riskante Lauschen nichts Neues über das Geheimnis ans Licht gebracht hat.
    Zwischen uns ist, wie immer, eine Tür, und dort, hinter geschlossenen Türen, werden alle wichtigen Dinge aufbewahrt.
    Ich löse also meine Füße vom Boden und gehe nach oben in den Seziersaal. Der Unterricht meiner Mutter ist gerade zu Ende, und ihre Studenten in weißen Kitteln entfernen sich auf Zehenspitzen von dem Tisch, auf dem der Mann liegt, der mittlerweile ein von Aasgeiern heimgesuchter Leichnam ist, ein schwarzer, skelettartiger Körper mit vereinzelten Lappen aus Muskelgewebe, die zwischen den Gelenken an trockenen Knochen hängen.
    »Geh und such Tante Klawa«, sagt meine Mutter, als sie mich sieht. »Und gib deinen Kittel ab.«
    Ich ahne nicht, dass Tante Klawa direkt hinter mir steht, |169| deshalb stolpere ich, als ich mich umdrehe, direkt in ihren hageren Körper. Sie breitet die Arme aus und hält ihre Wange an die meine, wobei ihr drahtiges Haar mein Gesicht kitzelt. Sie klopft mir mit ihrer Hand, die so klein und dürr ist, dass sie die Klaue eines Vogels sein könnte, auf den Rücken und krächzt mir nach Tabak riechende Worte ins Ohr. Ich verstehe nicht, was sie sagt, aber es muss ein Abschiedsgruß sein, und so stehen wir eine Weile da, im Blickfeld der versammelten Erstsemester, die soeben für das anatomische Museum einen menschlichen Leichnam in seine Bestandteile zerlegt haben.
    Ich wünschte, lebendige Körper wären so logisch und wissenschaftlich wie Leichen. Ich wünschte, sie enthielten keine erregenden, verwerflichen Geheimnisse, die von denen, die in sie eingeweiht sind, mit demselben Eifer gehütet werden, wie wir unsere Grenzen gegen fremde Eindringlinge schützen. Ich wünschte, ich wäre sechzehn, dann könnte ich mir ›Love Under the Elms‹ ansehen, in Farbe, mit echten Amerikanern und echten Leidenschaften und einem echten Kuss auf den Mund, der die Leinwand unseres nach dem Ersten Fünf-Jahres-Plan benannten örtlichen Kulturhauses füllt.
    Ich wünschte, ich könnte meine Mutter   – diejenige, die es nicht mehr gibt, die auf dem Porträt   – nach dem Geheimnis, nach dem Leben, nach Liebe und Begierde fragen. Ich wünschte, ich könnte sie nach meinem Vater fragen.
    Meine Mutter   – die echte   – zieht ihren weißen Kittel aus, legt ihre Stoffhaube ab und faltet sie fein säuberlich für Tante Klawa zusammen. »Das Sezieren ist abgeschlossen«, sagt sie und lächelt das Lächeln einer Lehrerin. »Es ist Zeit, nach Hause zu gehen.«

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GEFAHREN GROSSER FLÜSSE
    Im Juli, kurz vor meinem dreizehnten Geburtstag, während Marina mit ihrem Theater auf Tournee ist, besuchen meine Mutter und ich unsere Verwandten in Stankowo, eine kleine, hundert Kilometer von ihrem Geburtsort Iwanowo entfernt gelegene Stadt an der Wolga.
    Ich freue mich nicht nur auf den Besuch bei meiner Tante und meinen drei Cousins, sondern auch auf die Fahrt in einem Nachtzug. Die Fahrkarten aus Pappe, die meine Mutter drei Wochen zuvor gekauft hat, gewähren uns Zutritt zu einem Eisenbahnwaggon, und als die Trillerpfeife ertönt und der Bahnsteig davonzusegeln beginnt, lassen wir einige stürmisch mit Taschentüchern winkende Frauen in einer Rauchwolke zurück. Die anfangs noch zögerlichen Räder verfallen allmählich in einen gleichmäßigen Rhythmus; die Lokomotive beginnt seufzend ihre dröhnende Fahrt, und schon flackern die ersten, von Reihen winziger Datschas umgebenen Vorstadtbahnhöfe an uns vorüber.
    Wir reisen in einem der etwas teureren Vier-Bett-Abteile, das durch eine verspiegelte Tür vom schmalen Korridor abgetrennt ist, die sich öffnet, wenn man an einem Metallgriff zieht. Ich liege in der oberen Koje, meine Mutter unter mir in der unteren. Es gibt außer uns noch eine weitere Reisende, Ljuda, |171| aus der Kleinstadt Kaluga, die wir noch am Abend erreichen werden. Sie starrt aus dem Fenster, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, die Fäuste gegen die Wangen gepresst. Ihre kräftigen Arme quellen aus einem kurzärmeligen Kleid hervor, und die auf der Rückseite ihres Kopfes über Kreuz gelegten Zöpfe aus dichtem, weizenblondem Haar hängen unter ihrem eigenen Gewicht wie eine Hängematte durch.
    Ein Mann erscheint in der Tür

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