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Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Gorokhova
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unmissverständlichen |166| Lettern gedruckt und besagt, dass es mir vier weitere Jahre lang verwehrt sein wird, die kernige Sophia Loren zu sehen   – ob in der Liebe oder der Begierde   –, die zweifellos mehr über das Geheimnis weiß als die magere Schwarz-Weiß-Heldin in ›The Men in Her Life‹.
    Ich denke an Sophia Loren mit ihrer Wespentaille, in einem ausgestellten Rock, wie ich sie vor Kurzem in unserer Filmzeitschrift ›Sowjetski ekran‹ gesehen habe. Sie spazierte in Stöckelschuhen an irgendwelchen barocken Gebäuden vorbei, durch eine italienische Straße, die so aussah wie jede unserer Straßen, abgesehen davon, dass an den Fassaden keine Fahnen und Spruchbänder hingen. Während ich das Plakat so betrachte, versuche ich, sie mir in Amerika vorzustellen, aber es gibt nichts Konkretes, woran sich das Bild festmachen ließe. Wir sehen Amerika nie im Fernsehen; es ist ein fiktiver Ort, zu fremdartig und zu weit weg.
    Auf dem Plakat ist kein Mann zu sehen, deshalb male ich mir aus, wie Sophia Loren und der große, verführerische Wolodja aus der Anatomischen Fakultät meiner Mutter unter den Ulmen liegen und sich ihrer Lust hingeben. Sie sind erfahren und weltgewandt: Sophia, weil sie aus einem kapitalistischen Land kommt, und Wolodja, weil er achtzehn ist und eine richtige Arbeit hat. Ich beneide alle beide, Sophia Loren allerdings eine Spur mehr.
    Ich frage mich, ob das Geheimnis in anderen Ländern ebenfalls existiert und ob es dort ebenso gut gehütet wird wie hier. Ich kann A.   J.   Cronin oder gar dem angeblich so schlüpfrigen Guy de Maupassant nichts entnehmen. Vielleicht kommt man ja im sinnlichen Italien oder im würdevollen England oder im mythischen Amerika mit irgendeinem angeborenen Wissen auf die Welt. Vielleicht ist das Geheimnis ja wie ihre Grenzen   – ungeschützt und durchlässig.
     
    |167| Es ist mein letzter Ferientag, und ich muss mich vom Museum, von Tanta Klawa und der Anatomie verabschieden. Ich werde erst im nächsten Herbst wieder herkommen, zu einem weiteren Jahrestag der Revolution, wenn die Schulen vorübergehend geschlossen sind.
    Das Schaubild, das ich tagelang abgezeichnet habe, ist fertig und lehnt auf einem Tisch im Museum. Die roten Arterien und blauen Venen sind perfekt wiedergegeben, ein Farbtupfer inmitten all der Gefäße mit blassen Organen.
    Ich gehe durch den Flur, vorbei an den Türen, in die kleine Glasfenster eingelassen sind. Professoren stehen vor Schautafeln, auf denen menschliche Körper zu einem Gewirr aus Fäden in Primärfarben reduziert sind, und hinter einer der Türen sehe ich, wie meine Mutter auf einen roten Klumpen in einem Brustkorb aus Pappe zeigt. Ich frage mich, ob sie meinen Vater wohl je mit jener leidenschaftlichen, hitzigen Liebe geliebt hat, wie jenes Plakat für den amerikanischen Film mit Sophia Loren sie verheißt. Ich frage mich, ob meine Mutter mit ihrem Bedürfnis nach Ordnung und Schritthalten mit dem Kollektiv von dieser Art von Liebe überhaupt etwas weiß. Vielleicht wusste sie etwas davon, als sie noch jung war; vielleicht wusste sie früher einmal etwas davon und hat es inzwischen vergessen.
    Ich gehe nach unten ins Kellergeschoss und schlendere an Sinas Labor und Wolodjas Leichenhalle vorbei. Beide Türen sind geschlossen, doch hinter der Labortür höre ich ein Kichern. Ich weiß, es ist Sinas Kichern, das leise Gackern, das sie von sich gibt, wenn Wolodja in der Nähe ist. Ich bleibe vor der Tür stehen, obwohl ich nicht weiß, was ich eigentlich herausfinden möchte. Dann ist Wolodjas gedämpfte Stimme zu hören, oder eher so etwas wie stoßweises Geflüster, dann Sinas Gestammel und Rascheln und schweres Atmen. Ich weiß, ich sollte weitergehen, doch ich bleibe dort stehen, als seien meine |168| Schuhsohlen am Betonboden festgeklebt. Ich weiß, ich sollte weitergehen, doch das Geheimnis befindet sich genau da, hinter dieser Tür, deshalb bleibe ich stehen und lausche. Ich höre ein Knarren und das Geräusch eines Stuhles, der über den Boden schrammt, und wieder schweres Atmen. Noch mehr Geflüster und Geraschel. Ich weiß nicht, wie lange das Geheimnis anhält und wann es aufhört, deshalb kann ich nicht ermessen, wann ich mich lieber davonmachen sollte. Es wäre peinlich, fällt mir ein, wenn diese Tür plötzlich aufgerissen und ich Wolodjas und Sinas Blicken ausgesetzt wäre, eine unwissende Zwölfjährige, die im Flur steht und ihren Erwachsenenspielen lauscht.
    Wieder bin ich enttäuscht. Ich ärgere

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