Goodbye Leningrad
oder einer zerbissenen Lippe.
Ich kann nirgendwo herausfinden, was es mit diesem Geheimnis auf sich hat. Manche gleichaltrigen Mädchen verhalten sich so, als wüssten sie Bescheid, als gehörten sie zu diesem Club der Weisen und Erfahrenen. Sie verziehen ihre Münder zu |161| einem allwissenden Lächeln oder kneifen süffisant lächelnd die Augen zusammen, doch ich bin argwöhnisch. Meine Freundin Mascha beispielsweise, das Mädchen, das ich immer seltener sehe, obwohl sie in unserem Hof wohnt, hat vor Kurzem verkündet, wenn an den Oberschenkeln Blut hinunterlaufe, dann müsse man lange Unterhosen mit Gummizug über den Knien anziehen, um es aufzufangen, bevor es auf den Boden tropfe. Mascha sagte das im Brustton der Überzeugung, wobei sie ihren Kopf mit der perfekten Frisur in den Nacken warf, um ihre Lebensklugheit zu betonen; dabei wusste ich, dass sie sogar noch unwissender war als ich. Die Gummizug-Unterwäsche schien eine ebenso wirksame Maßnahme zu sein wie die Anweisung unseres Zivilschutzlehrers, unter unseren Pulten in Deckung zu gehen, falls Amerika eine Atombombe über uns abwerfen sollte.
Ich versuche, die Antworten in Büchern zu finden. Nicht in russischen Büchern, da sie alle das Geheimnis tunlichst umgehen. Schändlich und verwerflich, wie es nun einmal ist, bleibt es den Büchern des verkommenen kapitalistischen Westens vorbehalten. Im englischen Literaturunterricht lesen wir A. J. Cronins Roman ›Die Zitadelle‹, in dem die Auswüchse des Kapitalismus angeprangert werden – allerdings in einer sozialistischen, sterilen Art und Weise. Ich blättere in den gesammelten Werken von Guy de Maupassant, weil ein Mädchen aus meiner Schule, eine von denen, die behaupten, sie wüssten Bescheid, gesagt hat, seine Bücher seien ganz schön anzüglich. Ich überfliege die Seiten auf der Suche nach schlüpfrigen Stellen, kann jedoch nicht mehr entdecken als zwei Leute, die im selben Bett schlafen.
Dann kommt aus einer denkbar unerwarteten Richtung Hilfe. Mit der Schule werden wir im Kino einen amerikanischen Film mit dem Titel ›The Men in Her Life‹ (›Roman einer Tänzerin‹) |162| ansehen. Ich bin so aufgeregt, dass ich diesen Tag in einer Woche kaum erwarten kann. Männer in ihrem Leben – das klang denkbar unverblümt und aufregend. Ich stelle mir lauter amerikanische Männer vor, alle ganz lässig und provokant, die um eine Frau kämpfen, die zweifellos in sämtliche Facetten des Lebens eingeweiht ist. Als jedoch im Kino die Lichter ausgehen und auf der Leinwand körnige Schwarz-Weiß-Bilder erscheinen, laufen besagte Männer bloß in weißen Hemden mit Hausjacken und Fliege herum und sprechen in langen, unverständlichen Tiraden amerikanisches Englisch. Noch enttäuschender ist, dass es nur zwei sind. Sie sehen sich ähnlich, sind beide hager und lächeln nie, und soweit ich verstehen kann, tauchen sie nicht etwa zeitgleich, sondern nacheinander im Leben der Frau auf. Der Film schleppt sich zwei Stunden lang dahin, und ich kann mich nicht früher davonstehlen, da meine Lehrerin in meiner Reihe sitzt. Als die Lichter schließlich angehen, bin ich ganz erschöpft, weil ich so wenig Englisch verstanden habe, und entmutigt, weil ich wieder einmal nichts erfahren habe.
Wenn meine Mutter und ich aus der Anatomischen Fakultät zurückkehren, bringen wir den Formaldehydgeruch mit nach Hause, wo er sich im Flur hält, an unseren Mänteln und Schuhen haftet.
»Woher kommen die Babys?«, frage ich ganz beiläufig, während sie sich in der Küche zu schaffen macht und ein schnelles Abendessen zaubert. Ich sehe ihr dabei zu, wie sie ein Stück Fleisch aus dem Kühlschrank holt und es in den Schlund eines |163| Fleischwolfs stopft. Einige wenige kraftvolle Drehungen mit der metallenen Kurbel, schon schlängeln sich aus der Vorderseite des Fleischwolfs rote Spiralen, die in eine darunterstehende Schüssel gepresst werden. Natürlich habe ich eine allgemeine Vorstellung von Babys, aber ich möchte, dass meine Mutter, eine Anatomieprofessorin, mir klipp und klar ihre Version erzählt.
»Babys kommen, wenn sich eine weibliche Geschlechtszelle mit einer männlichen Geschlechtszelle vereint«, sagt meine Mutter, während sie das Gemisch aus Fleisch und Brot zu handflächengroßen
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formt. »Dann entwickelt sich im Uterus ein Fötus, und neun Monate später bringt die Frau ein Baby zur Welt.«
Ich bin ihr dankbar für diese direkte, kühne Erläuterung, gespickt mit Begriffen wie
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