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Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Gorokhova
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»männlich«, »weiblich« und »Geschlecht«, die in anderen auf den Hof hinausgehenden Wohnungen bestimmt nicht so selbstverständlich verwendet werden. Während ich auf meinen
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kaue, sinne ich über die Bedeutung und die Abstraktheit meines frisch erworbenen Wissens nach. Ich bin mit dem anatomischen Vokabular der Erwachsenen aufgeklärt worden und habe dennoch nach wie vor nicht die geringste Ahnung.
     
    Auf dem Weg zur Medizinischen Hochschule kommen wir an einer Entbindungsklinik vorbei, einem vierstöckigen Gebäude an einem kleinen Platz, in dessen Mitte sich Straßenbahnschienen kreuzen.
    »Hier wurdest du geboren«, sagt meine Mutter.
    Im Sommer stehen die Fenster der Klinik offen, junge Frauen lehnen sich heraus und rufen ihren Männern, die nicht weiter als bis zum Empfang zugelassen sind, Einzelheiten über ihren Zustand zu. »Das Wasser läuft nur so, aber ich bin immer noch |164| hier«, schreit eine Frau. »Kein Tropfen Wasser, weder kaltes noch warmes, schon seit drei Tagen«, kreischt eine zweite. Ich bin mir nicht sicher, ob sie dasselbe Wasser meinen, kann aber niemanden fragen.
    Wie jede Patientin auf der Entbindungsstation blieb auch meine Mutter eine Woche lang im Krankenhaus. Die Ehemänner kamen abends nach der Arbeit, standen auf den Straßenbahnschienen vor dem Krankhaus und riefen ihren aus den Fenstern hängenden Frauen Fragen zu.
    »Welche Augenfarbe?«, wollten sie wissen, wobei sie die Hände trichterförmig um den Mund legten, damit ihre Stimmen bis nach oben drangen.
    »Blau«, schrien die Frauen, gefährlich weit hinausgelehnt. »Alle Neugeborenen haben blaue Augen.«
    »Und das Haar?«, beharrten die Männer, während Straßenbahnen sie unter lautem Geklingel warnten, nur ja die Schienen zu räumen. »Welche Haarfarbe?«
    Hätte mein Vater auf diesen Gleisen gestanden, anstatt in der Datscha eines Freundes darüber zu schmollen, dass er mit fünfundfünfzig Vater eines Mädchens geworden war, dann weiß ich genau, was meine Mutter ihm zugerufen hätte. Ich habe Fotos von mir als Neugeborenes gesehen. »Kein Haar«, hätte sie gesagt. »Kahl. Genau wie Chruschtschow.«
    In all dem Trubel stand sie, während sie auf meinen Vater wartete, am Fenster, um mich den Männern der anderen Frauen zu zeigen, den Leuten, die aus geöffneten Straßenbahnfenstern spähten.
    Allerdings trägt der Anblick der Entbindungsklinik nicht unbedingt dazu bei, dass ich mehr begreife. Wie das Innere der Krankenhausstationen bleibt das Geheimnis eben genau das: ein Geheimnis.
     
    |165| Ich stehe vor einem Plakat für den Film ›Love Under the Elms‹ (›Liebestanz unter den Ulmen‹), das in unserem nach dem Ersten Fünf-Jahres-Plan benannten örtlichen Kulturhaus hängt. Auf dem Plakat ist ein Baum mit starken, ausladenden Ästen zu sehen, der wahrscheinlich für die gewichtige, komplizierte Natur der Liebe steht. Es ist ein amerikanischer Film, allerdings spielt darin Sophia Loren, die, wie jeder weiß, Italienerin ist. Ich begreife nicht, wie eine italienische Schauspielerin die Hauptrolle in einem amerikanischen Film spielen kann, wie die Grenzen zwischen Ländern so wenig geschützt und so leicht zu überqueren sein können. Mich beschäftigt jedoch eine noch schwerwiegendere Frage, die den Titel betrifft. Der Film basiert offenbar auf einem Theaterstück eines amerikanischen Dramatikers, Eugene O’Neill, wie meine Freundin Mascha, deren Mutter an einer weiterführenden Schule Englisch unterrichtet, mir erzählt hat, und der eigentliche Titel laute ›Desire Under the Elms‹. Was hatte das zu bedeuten? Waren Begierde und Liebe dasselbe? Oder hatte sich der Übersetzer allzu große Freiheiten erlaubt? Oder war   – was wahrscheinlicher ist   – die Abänderung in der Übersetzung beabsichtigt, eine Wandlung vom Körperlichen, Sinnlichen zum Gefühlvollen, Erhabeneren? Bei uns wundert sich beispielsweise niemand, wenn Marinas Theater während der Proben ganze Passagen aus westlichen Stücken streicht. Schließlich bringt der kapitalistische Westen, wie jeder weiß, mit seiner Wirtschaft und Kunst nichts als Verrohung und Schande über die Menschen.
    Ich fürchte, ich werde auf keine dieser Fragen eine Antwort erhalten. Unter dem Filmtitel steht eine Warnung: Verboten für Kinder unter sechzehn. Das heißt, auf der Leinwand wird ein Kuss zu sehen sein, ein echter Kuss, bei dem man die Lippen erkennen kann und nicht nur den Hinterkopf zu sehen bekommt. Die Warnung ist in kleinen, aber

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