Goodbye Leningrad
verachtet und denen, die ihn trinken, misstraut.
»Ein Jammer, dass wir keinen Salzhering dazu haben«, sagt Semjon, der die Verkleinerungsform
seljodotschka
verwendet.
»Keinen
seljodotschka
, wie schade«, flötet Ljuda, wobei sie, anstatt sich weiterhin über die ablehnende Haltung meiner Mutter lustig zu machen, auf einmal Vorfreude auf ein Festmahl zu verspüren scheint. Ihre flinken Hände zerteilen das Hühnchen und schneiden das Brot. Plötzlich versetzt sie sich einen Schlag auf die Hüfte und kreischt: »Wie dumm! Wie dumm von mir! Das hab ich völlig vergessen!«
|174| Sie klappt ihre Liege hoch und wühlt in dem Stauraum. Triumphierend zückt sie ein Glas Eingelegtes mit darin schwimmenden Knoblauchzehen und Dillbüscheln und packt es aus. »Das wird’s auch tun«, sagt sie und stellt es neben die Flasche auf den Tisch. »Ich wollte es eigentlich mit unserem eigenen Eingelegten vergleichen, aber was soll’s.« Sie öffnet mit einem Messer den metallenen Deckel, der folgsam aufspringt. »Für gute Reisegefährten ist einem nichts zu schade.«
»Auf die guten Reisegefährten«, sagt Semjon und erhebt sein Glas, um mit Ljuda anzustoßen. Er trinkt in drei großen Schlucken, trocknet die Lippen am Ärmel ab und grunzt. Dann kneift er einen Moment lang die Augen zusammen, worauf sich sein ganzes Gesicht in wohlige Falten legt. Er greift nach einer sauren Gurke und beißt die Hälfte davon ab, während sich seine Gesichtszüge wieder glätten.
»Auf guten Wodka und gutes Essen«, sagt Ljuda. Sie atmet aus und gibt, nachdem sie die Hälfte ihres Wodka heruntergespült hat, auf einmal schrille Geräusche von sich, wobei sie mit der Hand vor ihrem Gesicht herumfuchtelt. Dann flucht sie leise vor sich hin, trinkt den Rest aus und verspeist die andere Hälfte von Semjons saurer Gurke.
Einen Augenblick lang mustert meine Mutter die beiden voller Verachtung, dann wendet sie sich ab und blickt aus dem Fenster. Wer Wodka trinkt, ist in ihren Augen ganz tief gesunken. Bei Feierlichkeiten nippt sie ein wenig an Cognac und dem süßen Wein, den mein Großvater in Fünfundzwanzig-Liter-Behältern aus Unmengen Zucker und schwarzen Johannisbeeren aus seinem Garten braut.
Ich sehe, dass Ljuda meine Mutter inzwischen mit derselben Verachtung anstarrt, die meine Mutter Sekunden zuvor in ihren Augen hatte erkennen lassen.
Meine Mutter spürt ihren Blick und erwidert ihn. »Wodka |175| aus Teegläsern«, sagt sie in ihrer belehrenden Stimme und schüttelt didaktisch den Kopf.
»Wodka aus Teegläsern«, spricht Ljuda ihr nach, indem sie ihre Lippen schürzt. »Und was bevorzugen Sie, Madame Leningrad, Champagner?«
Meine Mutter presst die Lippen aufeinander. »Was ich bevorzuge, geht Sie gar nichts an«, sagt sie in einem zurechtweisenden Tonfall.
»Lassen Sie sie doch«, rät Semjon Ljuda und lächelt meine Mutter entschuldigend an. »Sie kommen aus verschiedenen Orten, Sie sind an unterschiedliche Dinge gewöhnt.« Er sagt nicht, meine Mutter sei
kulturnaja
, kultiviert, und Ljuda nicht, aber ich weiß, dass er genau das meint.
»Das sehe ich selbst«, erwidert Ljuda. »Sie weigert sich, Wodka zu trinken, vielleicht ist sie ja noch nicht einmal eine Russin.«
Ich denke an Mascha Mironowa, deren Mutter wie meine russisch ist, im Gegensatz zu ihrem Vater, wobei ich mich frage, inwiefern die Tatsache, Russe zu sein, einem das Leben leichter macht, wenn einem jede dahergelaufene Wodkasäuferin im Zug irgendwelche Vorwürfe ins Gesicht schleudern kann.
Meine Mutter erhebt sich und stemmt eine Faust in die Hüfte. »Ich bin genauso Russin wie Sie«, sagt sie. »Nur trinke ich nicht so viel.«
»Touché«
, sagt Semjon und streckt den Arm aus, als würde er einen Degen halten.
»Ich weiß nicht, was
touché
heißt«, sagt Ljuda, deren Wangen wie Herbstäpfel leuchten. »Ich weiß nur, dass sie mich Alkoholikerin nennt.«
Meine Mutter hat das Wort zwar nicht ausgesprochen, aber ich weiß, dass sie es sehr wohl gedacht hat. Dieses Wort schleudert sie Marina entgegen, wenn etwa nach einer Premiere |176| oder dem Geburtstag eines Schauspielers der Schlüssel meiner Schwester an dem Schloss unserer Wohnungstür herumstochert und das Schlüsselloch nicht findet. In solchen Nächten schließt meine Mutter absichtlich die Tür auf und keift, Marina würde in puncto Trinken genauso nach ihrem Vater kommen wie ich nach dem meinen in puncto Sturheit.
»Warum sollen wir streiten?«, sagt Semjon und stellt sich zwischen die
Weitere Kostenlose Bücher