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Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Gorokhova
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beiden Kojen. »Wir haben gutes Essen, gutes Trinken und gute Gesellschaft. Machen wir doch das Beste aus unserer Fahrt.«
    Ljuda knallt verärgert ihr leeres Glas auf den Tisch. »Sie und meine Schwägerin, die mit meinem Schwachkopf von Bruder verheiratet ist.« Sie blickt zu meiner Mutter. »Immer zeigt ihr mit dem Finger auf mich. Immer sagt ihr mir, dass ich zu viel trinke.«
    »Wer trinkt zu viel?« Semjon sieht sich mit gespielter Verwunderung um. »Eine Flasche für zwei, ganz normal.«
    »Warte mal.« Ljuda steht auf und macht einen Schritt auf meine Mutter zu, indem sie Semjon mit ihrer Körperfülle beiseite stößt. »Eines Tages in naher Zukunft werden Sie auf der Suche nach Brot aufs Land gekrochen kommen, und dann werde ich auf Sie spucken. Genauso wie Sie auf mich spucken, wenn ich in Leningrad Vorräte besorge.«
    Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie, da die Liege, auf der ich sitze, voller Einkaufsnetze mit eben solchen Vorräten ist, wie Ljuda sie dabei hat: Käse, Mayonnaise und Fleischwurst, die meine Mutter für die Familie meiner Tante besorgt hat. In einer Ecke des Stauraums unter mir steht ein Eimer, der gleiche wie der von Ljuda, der gleiche Typ Eimer, der in all unseren Läden zu sehen ist, dessen Inhalt von mehreren Schichten Plastik bedeckt ist   – acht Kilo Fleisch, eine prächtige Ausbeute nach zweistündigem Anstehen beim Fleischer. Leningrads Vorräte, |177| die von der Bevölkerung selbst, wie es in Ljudas Witz heißt, von einem Käufer nach dem anderen eigenhändig in die entlegensten Winkel unseres Landes geliefert werden.
    »Nächste Station Kaluga!«, ertönt die Stimme der Schaffnerin aus dem Flur. Unsere Tür rattert in ihren Angeln, gleitet auf, und im Türrahmen erscheint der hennagefärbte Schopf der Schaffnerin.
    Ich bin froh, dass die Schaffnerin genau in diesem Augenblick auftaucht. Ich fürchte mich vor Ljuda, vor ihren dicken Unterarmen und Zöpfen, die auf dem Kopf einer Erwachsenen so befremdlich wirken. Sie erinnert mich an Tante Polja, und ich bin sicher, dass sie, wenn wir uns in einem offenen Gelände befänden und sie die Gelegenheit hätte, aus voller Kehle zu kreischen, genau dieselbe Küchenstimme hätte.
    »Wie lange hält der Zug?«, fragt meine Mutter.
    »Fünfzehn Minuten«, ruft die Schaffnerin, während sie in ihrer schwarzen Uniform mit Messingknöpfen an der Vorderseite geschäftig den Gang entlangeilt.
    Da beginnt Ljuda, hektisch ihre Einkaufsnetze aus dem Stauraum zu heben. Semjon hilft ihr mit dem Eimer, und sie reiht sich in die Schlange von aussteigenden Passagieren ein, die sich den Gang entlang bis zu unserer Tür erstreckt.
    »Was für eine
nekulturnaja
«, murmelt meine Mutter in Ljudas sich entfernenden Rücken. »Von Kultur hat diese Frau noch nie was gehört.«
    Wenn meine Mutter und ich uns beeilen, können wir rasch die drei metallenen Stufen des Zuges hinunterspringen und einen Blick auf die von Frauen mit Kopftüchern feilgebotenen regionalen Köstlichkeiten werfen: Erdbeeren, die tassenweise verkauft werden; Gläser mit selbst eingelegten Pilzen, deren glitschige Mützen durch das Glas hindurch glänzen, und köstliche, schön fettige, mit Kohl gefüllte
piroschki
. Ganz hinten auf |178| dem Bahnsteig hält ein Mädchen mit Sommersprossen einen winzigen Korb mit wilden Erdbeeren in die Höhe.
    »Lass uns alle kaufen«, flüstere ich meiner Mutter zu, die dem Mädchen einen Rubelschein reicht, während ich den Korb nehme, dessen durchdringender Waldduft mir in die Nase steigt.
    »Tee!«, tönt die Stimme der Schaffnerin durch unseren Waggon. »Wer möchte Tee?«
    Kurz darauf werden drei dampfende Gläser in Metallhalterungen   – dieselben Gläser, die zuvor für den Wodka benutzt worden sind   – auf unserem Tisch abgestellt. Wir trinken starken Tee zu wilden Erdbeeren und blicken hinaus zu den Sternen, die einer nach dem anderen in der frisch gehäkelten Decke aus Dunkelheit auftauchen.
    Weniger als einen Tag lang sind meine Mutter, Semjon und ich über das Rattern der Räder, über die ständig wechselnden Ausschnitte der Landschaft miteinander verbunden. Wir rauschen durch die Finsternis in der Abgeschiedenheit unseres Abteils, in dem die Realität an der Intensität des bernsteinfarbenen Tees, am Duft der wilden Erdbeeren gemessen wird.
    Der Zauber wird bis morgen Mittag andauern, wenn der Zug seine Endstation, Stankowo, erreicht und wir uns in das rege Treiben des Bahnhofs, in die Arme meiner Tante, meines Onkels,

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