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Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Gorokhova
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zu unserem Abteil und schiebt mit einem Blick auf seine Fahrkarte seinen Koffer herein. Ljuda dreht sich zu ihm um, und ihr Gesicht leuchtet einen Moment lang interessiert auf, während sie den neuen Mitreisenden mustert. Über seinem Bauch spannt ein kariertes Hemd, an den Hüften wölbt sich seine Hose, und sein öliges Haar mit dem Scheitel direkt über dem linken Ohr ist quer über seine beginnende Glatze gelegt. Mit Schweißperlen auf der Stirn hievt er einen Koffer auf die obere Ablage. Ich weiß, dass er seiner Fahrkarte zufolge vermutlich einen unteren Liegeplatz hat, aber gemäß der Zugetikette gehen die unteren Kojen immer an die Frauen. Wenn es Zeit zum Schlafengehen ist, wird er einem weiteren ungeschriebenen Gesetz gemäß das Abteil verlassen, damit die Damen sich entkleiden und bettfertig machen können, um sich dann im Schein einer blauen Glühbirne, den Fuß behutsam auf den Tisch setzend, nach oben zu ziehen und sein Lager zu erklimmen.
    »Ljuda«, sagt die Frau und reicht ihm, als er mit dem Koffer fertig ist und sich das Gesicht mit einem Taschentuch abwischt, die Hand.
    »Angenehm«, sagt er. »Semjon.«
    Worauf er mich mit einem kurzen Blick zur Kenntnis nimmt und meiner Mutter freundlich zulächelt.
    Ljuda lädt Semjon ein, auf ihrer unteren Liege Platz zu nehmen, und wir starren alle aus dem Fenster. Draußen wiegen |172| sich die Kartoffel- und Buchweizenfelder am Horizont, und Wolken beginnen in Erwartung des Abends zu glühen. Schon bald weichen die Felder einer Wand aus Wald. Schwarze Tannen und weiße Birken flimmern in schachbrettartigem Muster vorüber, gesäumt von den blauvioletten und gelben Iwan-da-Marja-Blumen, deren zweifarbige Blütenstände ebenso untrennbar zusammengehören wie die beiden Liebenden, der die Pflanze dem Volksmund zufolge ihren Namen verdankt.
    Wir erfahren schon bald, dass Ljuda nach Leningrad gereist ist, um sich mit Lebensmitteln einzudecken. Ein Aluminiumeimer mit acht Kilo Fleisch ist neben etlichen Einkaufsnetzen mit Fleischwurst, Käselaiben und bauchigen Mayonnaisegläsern unter ihrer Sitzbank verstaut. »Halte Ausschau nach einer Schlange«, erläutert sie ihre Strategie, die meine Mutter mir ein Jahr zuvor ebenfalls ans Herz gelegt hat. »Je länger, desto besser. Sobald es irgendwo eine Schlange gibt, ist am anderen Ende etwas zu holen.«
    Semjon gibt ihr grundsätzlich recht, ohne allerdings seinen ganz persönlichen Standpunkt zu verhehlen. »Ich hasse Schlangen«, sagt er. »Hab mich noch nie angestellt.«
    »Das tut Ihre Frau, stimmt’s?«, schmunzelt Ljuda.
    Semjon lächelt schuldbewusst. »Ihr Frauen seid stärker als wir.«
    Ljuda lebt, wie wir hören, mit ihren Eltern, ihrem Bruder, dessen Frau und deren zwei »verzogenen« Kindern zusammen. Einen Großteil der Lebensmittel aus Leningrad werde sich wahrscheinlich ihre »schamlose« Schwägerin unter den Nagel reißen und horten, die Ljudas »einfältigen« Bruder bearbeitet habe, sie trotz der Vorbehalte der Familie zu heiraten.
    »Wissen Sie, warum es so leicht ist, dieses riesige Land mit Lebensmitteln zu versorgen?«, fragt sie und tätschelt die Bank mit all den Einkaufsnetzen und Eimern, wobei sie einen altbekannten |173| Witz zum Besten gibt. »Weil es ausreicht, Moskau und Leningrad zu beliefern. Das übrige Land steigt in den Zug, schnappt sich den Rest, und schleppt ihn nach Hause.«
    Als es zu dämmern beginnt, packt Ljuda ihr Abendessen aus   – einen halben Laib Schwarzbrot, vier Tomaten, zwei hart gekochte Eier und ein halbes gebratenes Hühnchen. Semjon zieht eine Flasche Wodka aus ihrem Zeitungskokon und stellt sie triumphierend auf den Tisch neben das Hühnchen. Darauf eilt er zur Schaffnerin und kehrt mit drei gerippten Teegläsern zurück, die er ihr, wie er sagt, zurückzubringen versprochen hat, bevor sie mit dem abendlichen Teeausschank beginnt.
    Meine Mutter wirft einen verächtlichen Blick auf die Flasche und macht sich daran, unseren eigenen Proviant auszupacken. Dazu gehören ebenfalls hart gekochte Eier, zwei üppige Stücke Kohlpastete, die sie drei Tage zuvor gebacken hat, sowie zwei dicke Scheiben Fleischwurst, die mit Butter auf Schwarzbrotstücke geklebt sind.
    Semjon reißt den silbernen Flaschenverschluss ab und schenkt Wodka ein, ein halbes Glas für jeden, für Ljuda und ihn selbst. Dann wendet er sich meiner Mutter zu, die unter Ljudas zunächst ungläubigem, dann spöttischem Blick die Hand über das dritte Glas legt. Ich weiß, dass meine Mutter Wodka

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