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Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Gorokhova
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um Zutritt zu einer Schule zu haben. Ich werde ihn in der Schublade meiner Mutter aufbewahren, zusammen mit ihrem eigenen Pass und ihren Orden, bis ich einundzwanzig bin und es Zeit für einen neuen ist. Im Moment besitze ich kein einziges Dokument, aus dem hervorgeht, dass ich ich bin. In meiner Schule weiß jeder, wer ich bin, und warum sollten unsere Milizionäre mich aus heiterem Himmel nach einem Dokument fragen, das meine Identität bestätigt? Sie sperren die Straßen für Autokolonnen von Funktionären ab oder stehen mit schwarz-weiß gestreiften Stäben in der Hand auf großen Straßenkreuzungen und passen auf, dass niemand bei Rot über die Ampel fährt. |229| Eine merkwürdige Vorstellung, ein solches Dokument mit sich herumzutragen, aber vielleicht ist das ja so typisch für den Kapitalismus wie Obdach- und Arbeitslosigkeit.
    Wir holpern über die Straßenbahnschienen zum anderen Ufer der Newa, um uns die Peter-und-Paul-Festung anzusehen, wo Dostojewski und Lenin wegen ihrer revolutionären Aktivitäten eingekerkert waren. Das am Morgen noch sonnige Wetter hat sich in das übliche bleierne Leningrader Grau aufgelöst, mit einer geschlossenen Wolkendecke und Windböen, die an den roten Fahnen am Ufer zerren. Sweta scheucht uns in den Gefängnishof der Festung und dann in eine abgelegene, fensterlose Zelle mit einem schmalen Eisenbett, die laut Marja Michailownas Vorlesungen für die Ungerechtigkeit und Grausamkeit des zaristischen Regimes steht. Wir passen nicht alle in die Zelle, deshalb stehen Kevin und ich im kopfsteingepflasterten Flur, neben einer lebensgroßen Figur, die wie ein zaristischer Gefängniswärter gekleidet ist.
    »Mal sehen, ob es funktioniert«, sagt Kevin und schließt seine Finger um das Gewehr des Wächters. Ich bin froh, dass die Museums-Babuschka die Gruppe in der Zelle beobachtet, denn, wie man weiß, gibt es in einem Museum kaum etwas Schlimmeres, als ein Ausstellungsstück zu berühren.
»Rukami ne trogat«
, steht in großen Lettern auf einem Schild. »Nicht mit der Hand berühren.« Was aber, wenn Kevin das Gewehr mit seinem Ellbogen berührt hätte? Ich frage mich nach den möglichen Auswirkungen unserer sprachlichen Unterschiede. Während das russische Wort
ruka
alles von den Fingern bis zur Schulter umfasst, reicht das englische
hand
nur bis zum Handgelenk. Meint das Schild in seiner englischen Version tatsächlich »Do not touch with hands or arms«? Oder sind die englischsprachigen Touristen vom Ellbogenberührungsverbot ausgenommen?
    |230| Ich würde mich gern mit Kevin über solche linguistischen Fragen austauschen, befürchte jedoch, nicht über genügend Grammatikkenntnisse und Vokabeln zu verfügen. Ich bin so froh, Kevins Satz über das Gewehr ganz und gar verstanden zu haben, dass ich lieber keine weiteren sprachlichen Peinlichkeiten riskieren möchte.
    Kevin ist nicht gerade gesprächig, und dafür bin ich dankbar. Als wir zu unserem Bus zurückgehen, kickt er Kieselsteine mit dem Fuß vor sich her und pfeift vor sich hin, ohne den Turm der Festung, der wahrscheinlich mit nicht weniger Gold überzogen ist als die Kuppel der Isaakskathedrale, auch nur eines Blickes zu würdigen.
    Ich weiß nicht, was ich machen würde, wenn das Undenkbare einträfe und ich eine vergleichbare Stadtrundfahrt durch London unternähme. Ich würde bestimmt weder pfeifen noch Steine durch die Gegend kicken oder irgendwelche Museumsgewehre anfassen. Ich weiß noch nicht einmal, ob ich den echten Trafalgar Square anhand des angestaubten Bildes in unserem Lehrbuch wiedererkennen oder überhaupt den Mut aufbringen würde, den Mund aufzumachen und etwas zu sagen.
    Von der Peter-und-Paul-Festung aus fahren wir an dem Kreuzer
Aurora
vorbei, der im Oktober 1917 den Schuss abfeuerte, mit dem der Sturm auf den Winterpalast ausgelöst wurde. Es ist ein altes Schiff, mit schwarzen Schornsteinen und unecht aussehenden Kanonen auf dem Deck. Kevin interessiert sich weder für den Kreuzer
Aurora
noch für Swetas Geschichte und zählt das Geld, das er aus seiner Tasche geholt hat, da wir uns dem Ende unserer Führung nähern, einem
Berjoska -Laden
. Ich sehe, wie lässig er mit den Pfundnoten umgeht, die so befremdlich aussehen, ausgestattet mit gefährlichen Kräften, sollten sie je in meine oder Tanjas Hände oder selbst in die von Marja Michailowna geraten. Einer der vielen |231| Paragrafen des Strafgesetzbuches untersagt den Besitz ausländischer Währung.
    Das Betreten eines
Berjoska -Ladens
hebt

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