Goodbye Leningrad
Marja Michailowna uns auf unseren Übungsfahrten geraten hat. Man könne die Touristen ablenken, indem man sie auf eine ehemalige Kirche oder einen |236| ehemaligen Palast hinweise. Man könne einen Witz erzählen. Als Marja Michailowna uns zur Eremitage mitnahm, um die Museumsvorträge zu üben, führte sie uns vor, was man sagen solle, falls die Gruppe sich nach den WCs erkundige. Die Toiletten seien ebenfalls Museumsstücke, sagte sie. Sie würden noch aus der Zeit Katharinas der Großen stammen.
Die Schlange, die Kevin inzwischen angafft, verheißt Toilettenpapier. Sie zieht sich um die Ecke bis in die Seitenstraße und besteht aus drei oder vier Reihen, die dicht gedrängt unter einem Spruchband mit der Aufschrift »Ein Dank an die Partei für das Wohlergehen des Volkes« stehen. Ich hoffe, dass Kevin nicht unbedingt in gerade diese Straße einbiegen will, denn an dieser Stelle wirkt die Parole einfach erbärmlich, als hätte jemand sie absichtlich dort angebracht, um etwas zu betonen, das so offensichtlich ist, dass es keines Kommentars bedarf. Sein Interesse gilt jedoch nicht etwa der Parole. Er blickt entgeistert auf zwei vom Anfang der Schlange nahende Frauen, beide mit Toilettenpapierrollen um die Hälse, die sie, um sie leichter tragen zu können, auf eine Schnur gefädelt haben.
»Darf ich ein Foto machen?«, flüstert er und hebt mit einem Leuchten in seinen haselnussbraunen Augen seinen Fotoapparat in die Höhe.
Ich glaube nicht, dass die beiden Frauen mit den Toilettenpapierhalsketten damit einverstanden wären. Ich glaube nicht, dass die Babuschka hinter dem Eiskarren, die uns inzwischen stirnrunzelnd beäugt, damit einverstanden wäre. Ich glaube nicht, dass der Milizionär, der über den Verkehr wacht, damit einverstanden wäre. Niemand würde sich gern so fotografieren lassen, aber Kevin lässt sich nicht abhalten: Er senkt den Fotoapparat und fotografiert aus der Hüfte, wobei er so tut, als würde er den Säulengang der ehemaligen Kasaner Kathedrale betrachten. Er hält sich für genial, dass ihm ein so brillantes |237| Ablenkungsmanöver eingefallen ist, doch auf dem Gebiet der Verstellung kann kein britischer Schüler mit unserer jahrzehntelangen täglichen Praxis mithalten. Jeder von uns – die Eisverkäuferin, die mit den Toilettenpapierrollen geschmückten Frauen und der Milizionär, sollte er seinen gestreiften Stab senken und in unsere Richtung blicken – würde in Sekundenschnelle seinen Trick durchschauen.
Ich muss mir rasch etwas einfallen lassen, denn die Babuschka hat ihre Fäuste in die Hüften gestemmt und wird im nächsten Moment etwas rufen, während eine der Frauen mit dem Toilettenpapier um den Hals in unsere Richtung zeigt. Einen Moment später würde sich der Milizionär umdrehen, um zu sehen, wer diese Unruhe stiftet, und mitten im historischen Zentrum der Stadt lauthals brüllen. Ich packe Kevin am Ellbogen und mahne ihn, sich zu beeilen, und zwar schleunigst, zu rennen, zu rennen, bis wir einen Häuserblock weiter sind und uns im Gedränge des Newski-Prospekts verlieren.
»Das war knapp!«, sagt er außer Atem und strahlt über sein Abenteuer. Ich kann seine Begeisterung nicht teilen: Der Gedanke an ein mögliches Einschreiten des Milizionärs lässt mein Blut in den Adern gefrieren. Marja Michailowna und meine Mutter würden angesichts einer solchen Schlagzeile zusammenzucken – »Verhaftet: Ausländer mit inoffizieller Fremdenführerin«. Wir hasten, getarnt im Getümmel, noch eine Straße weiter. Ich bin entsetzt bei dem Gedanken an das, was alles hätte passieren können. Ich bin entsetzt über mein Entsetzen, über meine eigene Feigheit und Angst.
Doch nichts von dem darf ich Kevin zeigen. Er lebt in London, wo es keine keifenden Babuschki, keine Miliz und keine Toilettenpapierknappheit gibt. Ich muss wieder so tun, als sei ich Fremdenführerin. Ich zeige ihm das Moika-Ufer, als wir am
Haus des Buches
mit dem Turm und der gläsernen Weltkugel |238| obendrauf und an Puschkins Wohnung vorüberkommen, in der der Dichter nach dem Duell, das er zur Ehrenrettung seiner Frau ausgetragen hatte, mit dem Tode rang.
Kevin gefällt das
Haus des Buches
, von Puschkin hat er allerdings noch nie etwas gehört.
Auf dem Boulevard der Gewerkschaften laufen wir am Palast der Arbeit vorbei zum Dekabristen-Platz an der Newa, wo Peter der Große auf einem sich aufbäumenden Pferd mit Lorbeerkranz und königlicher Grandezza in Richtung Wasser weist. Zweieinhalb
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