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Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Gorokhova
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uns wie das Englischsprechen aus der Masse heraus. Wir gehören zu den wenigen auserwählten Russen, die ihn betreten dürfen.
Berjoska
bedeutet Birke, ein Symbol für Russland. Es ist ein Laden ausschließlich für Westler, in dem die Waren nur gegen harte Währung, die kapitalistischer Länder, verkauft werden. Ich verstehe nicht, warum die sozialistischen osteuropäischen Länder mit ihrer zuverlässigeren Planwirtschaft keine Währung haben, die ebenso vertrauenswürdig ist wie die des instabilen, todgeweihten kapitalistischen Westens.
    Oder vielleicht verstehe ich es doch. Möglicherweise gehört dies ja zum selben altbekannten Spiel,
wranjo
. Dem Spiel, das wir alle spielen: meine Mutter, meine Schwester, meine Lehrer, meine Freundin Tanja, die sich gerade mit einem Mädchen in
Reebok
-Turnschuhen unterhält, und sogar Marja Michailowna   – oder vielleicht gerade Marja Michailowna   – mit ihren maßgeschneiderten Kostümen und Vorträgen über Leningrad, die Wiege der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution. Die Regeln sind ganz einfach: Sie belügen uns, wir wissen, dass sie lügen, sie wissen, dass wir wissen, dass sie lügen, aber trotzdem lügen sie weiter, und wir tun weiter so, als würden wir ihnen glauben.
    Die Schaufenster sind verrammelt, damit niemand von der Straße aus sehen kann, was sich im Ladeninneren befindet. Wenn Passanten hineinsehen könnten, würden sie durch das stählerne Drehkreuz stürmen, vorbei an der gelangweilten Kassiererin, hin zu den Regalen mit löslichem Kaffee, polnischem Schinken, französischem Cognac und Gedichten von Pasternak.
    Ich folge Kevin zu einem Regal mit Souvenirs: aufgereihte |232| Matrjoschka-Puppen, aus Holz geschnitzte Bären, handbemalte, lackierte Schatullen aus Palech, Lenin-Büsten. Für Dosen mit etwas, das sich Shrimps nennt, oder Flaschen mit Likör, in denen goldene Pünktchen treiben, oder schmale Blöcke aus harter Salami, wie ich sie seit der Grundschule nicht mehr gesehen habe, scheint er sich nicht zu interessieren. Er interessiert sich auch nicht für das Regal mit russischen Büchern, Bänden mit halb verbotenen Autoren wie Zwetajewa und Mandelstam, mit Bulgakows Roman ›Der Meister und Margarita‹, der meiner Schwester zufolge die Krönung der russischen Literatur des 20.   Jahrhunderts ist, so subversiv wie Solschenizyn. Ich nehme jedes einzelne Buch in die Hand und stelle es wieder zurück. Während die britischen Studenten die Samoware und Holzlöffel bestaunen, stehe ich vor dem Regal mit diesen Buchschätzen, die so nah und doch so unerreichbar sind.
     
    »Wudja like tgo for a waak?«, fragt Kevin, als wir in der Nähe seines Hotels aus dem Bus steigen. Die britischen Schüler scharen sich um Sweta, die mit verlegener Miene dasteht und nicht weiß, was sie mit all den Strumpfhosen und Kugelschreibern, die sie ihr reichen, tun soll. Ich wüsste es auch nicht. Obwohl Sweta noch nie westliche Strumpfhosen gesehen hat, zögert sie noch, sie anzunehmen. Ich wünschte, diese Schüler in Jeans wären etwas verständiger und würden ihr einen Gedichtband aus dem
Berjoska
oder zumindest eine Dose mit diesen Shrimps schenken.
    Ob ich einen Spaziergang mit Kevin machen wolle? Es ist eine rhetorische Frage, die ich allerdings nicht gleich beantworte, da ich an Marja Michailowna und ihre lange Liste mit Vorschriften denken muss. Ist ein Spaziergang im Freien ein ebenso schwerwiegendes Vergehen wie das Betreten eines Hotels? Ist es überhaupt ein Vergehen, wenn der britische Tourist |233| einen dazu auffordert? Das würde ich gern meine Freundin Tanja fragen, aber sie kritzelt gerade für das Mädchen in den
Reebok
-Turnschuhen ihre Adresse auf einen Zettel. Ich blicke zu Kevin, der mich mit seinen dunklen westlichen Augen anstarrt und auf eine Antwort wartet, und irgendetwas   – eine leise, durchtriebene Stimme   – sagt mir, dass es im offiziellen
wranjo -Spiel
gestattet wäre, mit diesem Jungen spazieren zu gehen, trotz der Tatsache, dass er ein Kapitalist und somit die schlimmste Sorte Ausländer überhaupt ist.
    Der Wind hat Löcher in die Wolkendecke gerissen, und die Sonne hat interessante Dinge zutage gefördert: Die Außenseite unseres Busses ist mit einer Schmutzschicht überzogen, auf den Pfützen des Bürgersteigs schillert eine Ölschicht in allen Regenbogenfarben, und Kevins Augen sind haselnussbraun, nicht schwarz. Ich blicke mich um: Die britischen Schüler sind ins Hotel gegangen, und Marja Michailowna ist nirgends zu

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