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Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Gorokhova
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Soldaten der Roten Armee vorgebrachten Antrag, die Stadt Petrograd nach Lenin zu benennen, wird hiermit stattgegeben«, diktiert Marja Michailowna. »Möge dieses bedeutendste Zentrum der proletarischen Revolution für alle Zeiten mit dem Namen des größten proletarischen Anführers   – Wladimir Iljitsch Lenin   – verbunden sein. Anführungszeichen oben«, sagt sie und beendet ein Zitat aus dem Beschluss des II.   Sowjetkongresses von 1924, Lenins Todesjahr.
    Dies ist unsere letzte Vorlesung, die Geschichte des Lenin-Museums, das sich im ehemaligen Marmorpalast befindet. Marja Michailowna hat den gesamten Zeitraum von 1703, als Peter der Große den Grundstein zur Peter-und-Paul-Festung legte, bis 1917 abgedeckt, als der ehemalige Winterpalast, die Residenz des Zaren und später Sitz der Provisorischen Regierung, von Arbeitern und Bauern gestürmt wurde. Offenbar sind nach 1917 kaum nennenswerte architektonische Bauwerke entstanden, die für ausländische Augen von Interesse wären.
    Spiegel in vergoldeten Rahmen werfen Tanjas und mein Bild zurück, als wir die Marmortreppe hinuntergehen, dann fallen die schweren Eingangstüren des ehemaligen Schuwalow-Palastes hinter uns ins Schloss. Das Wasser der Fontanka ist so bleiern wie der Himmel, und wir gehen durch die April-Dämmerung |222| zur Bushaltestelle, vorbei an einer Anlegestelle für Ausflugsboote, die bis Ende Mai verlassen daliegen.
    Tanja wohnt zwei Wohnblocks weiter, deshalb steigen wir an derselben Haltestelle aus. »Maklin-Prospekt«, verkündet der Fahrer, während der Bus in unsere Straße einbiegt und quietschend hält. Unsere Englischlehrerin hat uns gestern erzählt, Genosse Maklin, nach dem unsere Straße benannt ist, sei kein Russe, wie ich wegen der Endung des Namens auf »in« angenommen hatte, sondern ein Ire namens MacLean. Ich habe keine Ahnung, warum eine Straße in Leningrad nach einem Iren benannt worden sein sollte, es sei denn, er war ein Revolutionär, der sich im Jahr 1917 von Irland hierher aufgemacht hat, um sich am Sturz des Zaren zu beteiligen.
    Ich besuche die achte Klasse und bin zynisch. Ich glaube nicht länger an die Sache der Pioniere, jener Organisation, aus der wir uns im vergangenen Jahr verabschiedet haben, als wir alle vierzehn und somit Mitglieder der Jungen Kommunistischen Liga, auch Komsomol genannt, wurden. Ich habe große Zweifel gehegt, ob ich dem Komsomol beitreten soll, die ich auch zu Hause äußerte, bevor wir unsere roten Pionierhalstücher gegen Anstecknadeln mit einem Freudenfeuer und Lenins Profil tauschten.
    »Es ist doch alles nur ein einziges
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«, sagte meine Schwester. »Alles bloß Heuchelei und Verlogenheit.« Marina hat eine Vorliebe für hochtrabende, theatralische Formulierungen, wie sie sie aus Theaterstücken kennt. »Der ganze kommunistische Wahn von wegen Paradies auf Erden und gleiche Arbeit. Sie tun so, als würden sie uns bezahlen, und wir tun so, als würden wir arbeiten.«
    »Willst du auf die Universität gehen?«, fragte meine Mutter.
    Ich kenne niemanden, der nicht auf die Universität gegangen ist, bis auf Tante Lusja, die Hausmeisterin unserer Schule, |223| deshalb wusste ich, dass die Frage meiner Mutter rein rhetorisch war.
    »Ohne eine Komsomol-Anstecknadel kommst du nicht auf die Universität«, sagte meine Schwester. »Es ist die dritte Frage im Bewerbungsbogen, gleich nach deinem Namen und deiner ethnischen Zugehörigkeit.«
    Inzwischen tragen Tanja und ich unsere Komsomol-Anstecknadeln an der schwarzen Uniformschürze, die um die Taille über ein braunes Kleid gebunden wird. Trotz unseres Zynismus und unserer Zweifel möchten wir beide auf die Universität gehen.
     
    Wir hätten alle die Prüfung bestanden, sagte Marja Michailowna, alle dreißig. Das heißt, dass wir, wenn die Ferien angefangen haben und die erste Bustour aus England eintrifft, einander als Fremdenführerinnen ablösen müssen.
    Die erste Gruppe mit britischen Oberschülern in unserem Alter kommt Mitte Juni an und ist in einem Hotel nicht weit vom Zentrum untergebracht. Das Hotelgebäude sieht so aus, als gehöre es in die Neubaugebiete am Ende der Metrolinie, deshalb bin ich mir nicht ganz sicher, ob es ein Hotel für Ausländer ist. Es könnte ebenso gut eine Kategorie darunter sein, ein Hotel für hochrangige Russen, mit weißen Fluren und abblätternder Farbe, deren Zimmer immerhin ein Handtuch und ein Stück Seife zu bieten haben.
    Natürlich ist das alles pure Spekulation. Marja Michailowna hat

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