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Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Gorokhova
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sage ich, wie eine Figur in einem Dialog aus unserem Lehrbuch. »My name is Lena. What’s yours?«
    »Kevin«, sagt der Junge. Oder hat er Calvin gesagt? Die Laute blubbern in seinem Mund und kleben wie zu lange gekochtes Buchweizen-
kascha
zusammen. Ich bin ein hoffnungsloser Fall, und Marja Michailowna hatte recht, mich nicht ans Mikrofon zu lassen. Ich werfe Tanja einen verzweifelten Blick zu, doch sie unterhält sich inzwischen mit einem Mädchen auf der anderen Seite.
    Außer mich vorzustellen, weiß ich sonst nichts zu sagen, und bin deswegen dankbar, als Sweta unseren ersten Halt ankündigt. Wir müssten alle aussteigen, ordnet sie an, und uns in einem Halbkreis gegenüber dem Eingang der Isaakskathedrale aufstellen, um die massiven Granitsäulen davor gut sehen zu können.
    Zu Swetas Verdruss wollen die englischen Schüler keinen Halbkreis bilden. Sie stehen so, wie es ihnen gefällt, in einer kleinen Gruppe, und hören ihr höflich zu, während sie die genaue Menge Gold nennt, die für die Vergoldung der Kuppel verwendet worden sei. Einhundert Kilogramm, sagt sie, worauf manche Studenten anerkennend pfeifen und manche ein Geräusch machen, als würden sie ausatmen.
    Ich halte diese Information über die Goldmenge für geschmacklos, denn eigentlich sollen wir bei dieser Stadtrundfahrt einen Eindruck von der künstlerischen, inneren Schönheit |227| der Stadt vermitteln. Vielleicht hat Marja Michailowna sie aber auch gerade deswegen mit berücksichtigt, weil sie denkt, die Menschen aus kapitalistischen Ländern seien materialistisch und würden sich nicht für hehre Ideale interessieren.
    Ich tue so, als würde ich die Skulpturen am Portal der Kathedrale betrachten, dabei werfe ich in Wirklichkeit einen Blick auf Kevin oder Calvin. Er ist eine Spur größer als ich, hat dunkles Haar, das länger ist, als die Jungs in meiner Schule es tragen dürfen, einen breiten Nacken und ein markantes Kinn. Er sieht aus wie ein Rugbyspieler, was auch immer Rugby sein mag. Ich beobachte ihn dabei, wie er in seinem Ohr bohrt und dann mit der Kante seines Schuhs über den Asphalt scheuert. Plötzlich blickt er hoch, und eine Sekunde lang begegnen sich unsere Blicke, bevor ich mich abwende und so tue, als würde ich das Denkmal von Zar Nikolaus I. anstarren, das nur wegen seines einzigartigen künstlerischen Wertes nach wie vor in der Mitte des Platzes stehen darf.
    Ich kann es kaum erwarten, in den Bus zurückzukehren und wieder neben dem Jungen zu sitzen. Er fragt, ob all unsere Kirchen mit so viel Gold verkleidet seien. Unsere ehemaligen Kirchen, korrigiere ich ihn in Gedanken. »Goold«, sagt er, »sah moch goold.« Die einfachsten Wörter scheinen sich in seinem Mund zu fremdartigen Gebilden zu formen, die so schwer zu entschlüsseln sind, dass ich meine Ohren spitze. Vielleicht ist seine Aussprache ja deswegen so anders, als ich erwartet hatte, weil er aus Schottland oder Nordirland kommt. Vielleicht sollte ich ihn nach dem Revolutionär McLean fragen, dessen Name auf einem Schild an der Ecke unserer Straße steht.
    Nach einem Halt auf dem Palastplatz greift der Junge zu Anschauungsmaterial. Er leert sein Portemonnaie in meine Hände: zwei Abschnitte aus Pappe (irgendwelche Eintrittskarten?), ein blaues Rechteck aus Plastik mit lauter Zahlen, ein |228| Foto von einem Mädchen (seine Schwester?), eine Karte mit seinem eigenen Foto und seinem Namen (Kevin!). Die Eintrittskarten, erläutert er, seien für einen Streifen, den er kurz vor seiner Abreise gesehen habe (Streifen? Meint er einen Kinofilm?); das Plastikding sei eine
visa
(ein Visum wofür? Um in die Sowjetunion einzureisen?), das Mädchen seine Freundin (Mädchenfreund?) und die Karte mit seinem Foto sein
ay-dee
.
    Ich bin mir nicht sicher, ob das Material wirklich hilft. »Was ist ein
ay-dee
?«, frage ich und beginne mit dem Unverständlichsten.
    »Eben ein
ay-dee
«, sagt Kevin, wirft seinen Kopf zurück und ringt nach Worten, um etwas so Offensichtliches zu erklären. »Ein Dokument, um Zutritt zu einer Schule zu haben. Ein Ausweis, den man der Polizei zeigt.«
    Das Wort »Polizei« ist hilfreich. »Wie ein Pass?«, frage ich.
    »Nein«, sagt Kevin. »Einen Pass braucht man, um hierherzukommen. Ein
ay-dee
ist für England.«
    Ich gebe ihm lächelnd zu verstehen, dass ich ihn verstanden habe. Dabei stimmt es gar nicht. Nicht so ganz jedenfalls. Wenn ich sechzehn werde, bekomme ich im zuständigen Milizbüro einen Pass. Allerdings werde ich ihn nicht benötigen,

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