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Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Gorokhova
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uns angewiesen, das Hotel auf keinen Fall zu betreten, und eine ganze Litanei von Verhaltensregeln heruntergebetet. Wir müssten überpünktlich sein und draußen warten. Wir müssten saubere Kleidung tragen und gewaschenes Haar haben. Wir sollten besser keine Geschenke, auf keinen Fall aber ausländisches Geld annehmen.
    |224| Den Besitz ausländischer Währung betreffend ist das Gesetz unmissverständlich   – darauf steht Gefängnisstrafe. Manch anderer Lehrsatz von Marja Michailowna ist indessen weniger eindeutig. Was versteht man beispielsweise unter sauberer Kleidung und gewaschenem Haar? Wie die meisten anderen wasche ich meine Haare einmal in der Woche, am Samstag. Ich weiß, dass Tanja sich ihre am Sonntag wäscht, wenn sie mit ihrer Mutter in ein öffentliches Bad geht, da sie zu Hause keine Badewanne haben. Wenn die Briten also am Dienstag eintreffen, gilt mein Haar dann noch als gewaschen oder bereits als schmutzig? Ich wünschte, jemand könnte mir erklären, wie man dieses Dilemma in England lösen würde, aber die einzige Person, die Einblick in die westliche Lebensart hat, ist Marja Michailowna, und die werde ich auf keinen Fall fragen.
    Tanja und ich treffen früh ein und warten draußen. Ich beobachte, wie die Sonne in ihrem blonden, glänzenden Haar schimmert, was bedeutet, dass sie es am Abend zuvor unter dem Wasserhahn in der Küche gewaschen hat. Wir stehen bei den sechs Reisebussen, die gegenüber dem Hotel aufgereiht sind. Marja Michailowna tritt mit einem Papierstapel in der Hand aus der Tür und teilt uns den Bussen zu. Wir werden beide aufgefordert, hinten Platz zu nehmen.
    Ich rede mir ein, dass ich eigentlich erleichtert sein müsste, dabei bin ich enttäuscht. Weshalb sollte Sweta Kurdina, die vorn im Bus nervös blinzelnd ein Mikrofon einzustellen versucht, eine bessere Fremdenführerin sein als ich? Welche Kriterien hat das
Haus der Freundschaft und des Friedens
bei der Unterscheidung zwischen vorn und hinten herangezogen?
    Noch bevor Sweta ins Mikrofon zu atmen beginnt, beobachte ich die Passagiere, diese kapitalistischen Oberschüler, die so viele Vorschriften erforderlich machen. Sie sind zweifellos anders: Sie tragen Jeans, haben gewaschenes Haar, kauen |225| Kaugummi und sprechen alle englisch. Ihr Englisch erhebt sie über alles, was ich kenne. Ihr Englisch erfüllt mich mit Euphorie wie auch Melancholie. Obwohl die Laute dieser Sprache so berauschend sind wie der Sekt zu Silvester, weiß ich, dass ich, selbst wenn ich noch so fleißig lerne, niemals imstande sein werde, wie diese Schüler zu sprechen. Mein eigenes Englisch wird sich für alle Zeiten auf Marja Michailownas Vorlesungen über die Geschichte ehemaliger Paläste beschränken. Ich kann also nicht mehr tun, als still und bescheiden dazusitzen und inmitten dieses linguistischen Himmels den süßen Duft von Abgasen einzuatmen. Ich kann nicht mehr tun, als zuzuhören und, falls ich mich traue, sogar zu sprechen.
    Als der Bus sich in Bewegung setzt und Sweta mit ihrem Vortrag über die Pläne Peter des Großen für die Stadt beginnt, lächelt Tanja mich verschwörerisch an. »Wir sind wie zwei Spione«, flüstert sie auf Russisch, damit niemand sie verstehen kann. »Wie zwei Fallschirmspringer inmitten der Nazi-Nachhut.« Natürlich wissen Tanja und ich, dass das, was sie sagt, ironisch gemeint ist, dass die Briten im Krieg an unserer Seite gekämpft haben, aber wir fühlen uns trotzdem vom Feind umzingelt, von einer uns fremden Spezies, von Wesen aus einem anderen Universum.
    Halb Tanja zugewandt, stelle ich fest, dass ich dem Jungen neben mir den Rücken zudrehe, dass ich eine von Marja Michailownas Regeln breche: Zeige einem Briten, der zu Besuch ist, nie den Rücken. »Excuse my back«, sage ich, wie wir von Marja Michailowna gelernt haben. Ich staune über meine eigene Stimme, über die englischen Wörter, die, aus meinem Mund kommend, an jemanden gerichtet sind, dem ihre phonetische Unzulänglichkeit nicht entgehen wird.
    »Never mind«, sagt der Junge und lächelt. »It’s lovely.«
Lahwli
, sagt er, und zeigt seine weißen Zähne, wobei er mir |226| mit seinen dunklen westlichen Augen direkt ins Gesicht blickt.
    Ich bin hier, um die Ordnung aufrechtzuerhalten, sage ich mir, deshalb muss ich verantwortlich handeln und ein törichtes Kichern unterdrücken. Ich muss all meine Kräfte bündeln und die mir bekannten Wörter in die korrekte Reihenfolge der englischen Morphologie und Syntax bringen. »How do you do«,

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