Goodbye Leningrad
sehen. Tanja macht große Augen, als ich ihr eröffne, dass ich einen Spaziergang mit Kevin machen werde, doch ich kann ihr ansehen, dass sie mich beneidet.
Wir fahren mit der Metro ins Stadtzentrum, an Orte, die es wert sind, einem Fremden vorgeführt zu werden. Während wir mit einer Rolltreppe immer weiter in die Tiefe gleiten, unter die Sümpfe, die Peter der Große in eine Stadt umzuwandeln beschlossen hatte, reißt Kevin staunend die Augen auf, und seine Kinnlade fällt herunter, worauf makellose englische Zähne zu sehen sind. »It’s a mile deep!«, ruft er mit demselben Entzücken, das ich in seinem Gesicht gesehen habe, als er im Gefängnis der Peter-und-Paul-Festung das Museumsgewehr anfasste. Unten auf dem Bahnsteig der Metro steht er sprachlos da und bestaunt die Kronleuchter aus Kristallglas, die Marmorsäulen und die Mosaike an den Wänden. »This is a bloody palace«, sagt er und dreht und wendet sich, um jeden einzelnen granitenen |234| oder marmornen Mosaikstein zu begutachten, aus denen die einzelnen Buchstaben des Namens der Station gefertigt sind.
Ich weiß, dass »bloody« nicht »blutig« bedeutet. Ich weiß, dass es ein Schimpfwort ist, und lege das Wort sogleich in der Englisch-Abteilung meines Kopfes ab, in jenem Winkel, in dem ich nicht länger eine gesetzestreue Fremdenführerin für das
Haus der Freundschaft und des Friedens
bin, sondern jemand ganz anderes, jemand, dessen Vokale auch Diphtonge heißen, dessen
l
’s trällern und dessen
r
’s rollen und dessen Sätze im Gegensatz zu unserer leicht zu handhabenden russischen Sprache am Ende ansteigen.
Mir gefällt die Englisch-Abteilung in meinem Kopf, denn dort fühle ich mich wie im Theater. Als würde ich eine Rolle spielen, bei der ich so tue, als sei ich ganz selbstbewusst und unerschrocken. So muss sich meine Schwester fühlen, wenn sie auf der Bühne steht – befreit von aller Mühsal des Alltags, ganz erfüllt davon, eine andere zu sein. Es ist aufregend und nicht ganz ungefährlich.
Diese Aufregung bewirkt zu meiner Verwunderung, dass plötzlich englische Wörter aus meinem Gedächtnis auftauchen und sich zu grammatikalisch einwandfreien Sätzen aneinanderreihen. Ich erzähle Kevin alles über den Bau der Leningrader Metro, über die mühsame Plackerei, durch den Sumpf des Newa-Deltas zu bohren. Ich erzähle ihm von den Granitplatten, die von Norden herbeigeschafft wurden, so wie sie auch von Leibeigenen zum Bau der Isaakskathedrale herangeschleppt worden seien. Während ich ihn wie eine Fremdenführerin auf die Kronleuchter und den Marmor hinweise, bemerke ich, wie die Leute um uns herum, auf dem Heimweg von der Arbeit schwer beladen mit Einkaufsnetzen, sich nach uns umdrehen. Sie starren Kevin an, weil er offensichtlich Ausländer ist, und mich, weil ich Englisch spreche – es ist derselbe ehrfürchtige |235| Blick, mit dem sie Schauspieler anstarren, die nach einer Vorstellung aus dem Bühneneingang kommen.
Kevin bestaunt die digitale Wanduhr, die zwischen den einzelnen Zügen im Sekundentakt klickt, und den Zug, der noch vor Ablauf einer Minute eintrifft. Es sei Berufsverkehr, erläutere ich. Gewöhnlich wären die Intervalle zwischen den Zügen bis zu zwei Minuten lang. Ich weiß, es klingt förmlich und gespreizt, wenn ich Begriffe wie »Intervalle« und »gewöhnlich« verwende, aber Kevin gibt mir heftig nickend zu verstehen, dass er verstanden hat.
Auf einer weiteren meilenlangen Rolltreppe werden wir emporgetragen und durch die Glastüren auf den Newski-Prospekt gespuckt.
»D’ya wanna have a cup of coffee?«, fragt Kevin.
Ich habe keine Ahnung, wie er darauf kommt, auf Leningrads Prachtstraße eine Tasse Kaffee auftreiben zu können, lasse mir jedoch nichts anmerken. Auch das hat Marja Michailowna uns nahegelegt: Zeigt euch nie erstaunt, ganz gleich wie unwahrscheinlich oder weit hergeholt eine Frage auch erscheinen mag. Ob sich Bären in unsere Straßen verlaufen? Nein. Wie viel Prozent der Bevölkerung arbeitslos sei? Null. Ob man irgendwo einen Kaffee trinken könne? Weiß ich nicht. Wir müssen so tun, als seien wir kultiviert und gebildet und erhaben über die naiven oder materialistischen Fragen britischer Oberschüler, erhaben darüber, auf dem Newski-Prospekt einen Kaffee zu trinken.
Ich sehe eine Schlange, die sich um eine Ecke windet, und Kevin sieht sie auch. Das
Haus der Freundschaft und des Friedens
vermag gegen Schlangen nichts auszurichten. Es gibt ein paar lasche Strategien, zu denen
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