Gordon
früh am Nachmittag frei war. Aus demselben Grund konnte er angenommen haben, dass auch ich frei sein würde. Ich hätte berufstätig sein können. Er wusste nichts über meine Umstände. Aber selbst wenn die Möglichkeit bestanden hätte, dass ich am Samstagnachmittag nicht arbeitete, hieß das noch lange nicht, dass ich auch sonst nichts vorhatte. Ich hätte schließlich – was wusste er schon? – mit einem anderen Mann verabredet sein können. Und dennoch hatte er nicht daran gezweifelt, dass ich zum Portman Square kommen würde.
So eine Frechheit, sagte ich zu mir, während ich mir das Badewasser einlaufen ließ, was bildet er sich eigentlich ein, wer er ist? Und als ich mich da an seine Karte erinnerte, rannte ich die drei Treppen hinauf, schnappte mir die Handtasche, um keine Zeit mit langem Suchen zu verlieren, flitzte die Treppe wieder hinunter und stieß mit Mr. Sewell zusammen.
»Was ist denn hier los?«, sagte er, als er mich im Bademantel und mit der Handtasche in der Hand sah. »Das ist ja eine schöne Aufmachung, um auszugehen und sich mit seinem Freund zu treffen!«
»Meine Wanne läuft gleich über«, sagte ich.
»Na, das war ja wirklich famos!«, gab er zurück. »Eine kleine Überschwemmung hätte mir gerade noch gefehlt. Ich könnte glatt ein neues Bad aus der Versicherung herausschlagen. Was erwartet ihr Leute eigentlich? Für die Miete, die ihr zahlt, erwartet ihr das Ritz. Klopfen Sie bei mir an die Tür, wenn ich Ihnen den Rücken schrubben soll, ja?« Und er verschwand in dem Teil des Gangs, der zu der Kellertreppe führte.
Ich mochte Mr. Sewell. Er war eine Unterschicht-Version des Stiefvaters einer meiner Klassenkameradinnen, von dem ich seinerzeit meinen ersten Kuss empfangen hatte. Er war schmal, flott und forsch wie er, ehemaliger Offizier wie er, und wie er wurde er von seiner Frau ausgehalten. Die Mutter meiner Klassenkameradin, eine Schneiderin mit einem großen Atelier, hatte sich diesen Ehemann allein wegen seines Charmes gehalten; soweit ich wusste, hatte er nie irgendeinen Beruf ausgeübt. Ähnlich verhielt es sich mit Mrs. Sewell, die gleichfalls in finanzieller wie in geschäftlicher Hinsicht die Hosen anhatte. Sie war die Eigentümerin der Pension. Daneben gehörten ihr noch mehrere weitere Häuser, um die sie sich selbst kümmerte, und damit ihr Mann etwas zu tun hatte, ließ sie ihn als unseren Hauswirt fungieren – eine Aufgabe, derer er sich dadurch entledigte, dass er sich sporadisch, meistens am Morgen, bei uns blicken ließ und dem irischen Dienstmädchen auf den Hintern klatschte, »damit sie besser arbeitete«, was sie mit Schreien gespielter Entrüstung quittierte.
Sobald ich mich eingeschlossen hatte, holte ich die Karte heraus. Ich las: »Dr. Richard Weir Gordon«.
Es spricht ja eigentlich nichts dagegen, ihn heute Nachmittag zu besuchen, sagte ich zu mir, solange ich rechtzeitig zum Abendessen wegkomme. Ich war bei meiner Cousine Sylvia und ihrem Mann zum Essen eingeladen.
Ich dachte nicht weiter darüber nach, bis ich mich um zwei Uhr nachmittags in der Eingangshalle wieder fand, wie ich meine Cousine Sylvia anrief und ihr sagte, ich könne an dem Abend leider nicht kommen.
Als ich das Haus am Portman Square erreichte, stellte ich fest, dass die schwarze Eingangstür nur angelehnt war; ich trat langsam ein und betrachtete in aller Ruhe den mit schwarzen und weißen Rauten belegten Marmorfußboden der geräumigen Eingangshalle und die zwei riesig hohen japanischen Vasen, die das vergoldete Wandtischchen flankierten, auf dem mehrere Briefe lagen. Ich trat näher heran und warf einen Blick darauf, da ich dachte, einige davon könnten für Gordon sein und mir, falls ja, irgendwelche Rückschlüsse auf seine Person ermöglichen. Dann klingelte ich an seiner Tür.
Als er mir öffnete und ich eintrat, sagte er: »Ach übrigens, haben Sie in der Halle irgendwelche Post für mich gesehen?«
»Nein. Absolut nichts«, sagte ich.
Er verfiel in einen demütig winselnden Ton: »Ach je, ach je! Und Sie sagen es auch noch so triumphierend! Es freut Sie maßlos, dass ich keinen einzigen Brief bekommen habe. Sie wollen mich bestrafen!« Und er wandte das Gesicht zur Ecke und stand mit gesenktem Kopf da.
Ich dachte, vielleicht ist er gar kein Arzt. Vielleicht ist er ein Schauspieler, der sich für einen ausgibt.
»Kommen Sie rein«, sagte er, »setzen Sie sich. Ziehen Sie aus, was Sie ausziehen möchten, und behalten Sie an, was Sie anbehalten möchten. Später gehen
Weitere Kostenlose Bücher