Gorgon (Horror Stories 1) (German Edition)
Inhalt
9
Gorgon
*
Für eine Zwölfjährige war Linda Baker bereits sehr selbstständig.
Ihr brauchte schon lange niemand mehr zu sagen, dass sie endlich aufzustehen habe, endlich ins Bett gehen müsse, sich ordentlich anziehen solle oder nicht zu lange fernsehen dürfe. Linda war aus diesem Alter heraus.
Wie jeden Morgen packte sie ihr Schulzeug zusammen, steckte sich ein wenig Geld für Süßigkeiten ein und ging die Treppe zur Küche ihres Elternhauses hinunter, wo die Familie schon beim Frühstück saß. So sehr sich Linda auch jeden Morgen beeilte, ihre Eltern und Geschwister saßen immer schon vor ihr am Tisch.
„Guten Morgen“, rief Linda fröhlich in die Runde, aber keiner hielt es für nötig, ihr zu antworten. Linda war das gewöhnt, und deswegen machte sie sich nichts mehr daraus.
Sie aß ihre Cornflakes (nachdem sie selbst ihr Frühstück zubereitet hatte), trank ihren Orangensaft und sah auf die Uhr, die, seit sie denken konnte, über der Küchentür hing.
„Ich bin wieder spät dran“, rief sie, wovon aber niemand Notiz zu nehmen schien. Auch gut. Sie ging zu ihrer Mutter, gab ihr wie jeden Morgen einen Kuss auf die Wange und rannte, ohne sich noch einmal umzusehen, durch die Haustür ins Freie.
Die Schule war nicht allzu weit entfernt, weswegen sie nicht mit dem Bus fahren musste. Sie hatte zu Fuß einen etwa zehnminütigen Schulweg, der ihr oft Gelegenheit gab, über so manche Dinge nachzudenken.
Zum Beispiel über ihren großen Bruder Jamie.
Er sprach nicht mehr mit ihr, und das tat ihr weh. Vielleicht hatte sie ihn gekränkt oder sogar beleidigt, aber sie wusste es nicht genau. Er gab ihr keine Antwort, wenn sie ihn danach fragte. Seit er nicht mehr mit ihr sprach, hatte sie ihn schon viele Male (vergeblich) gebeten, wieder mit ihr zu spielen oder wenigstens mal zu lachen. Aber er war bis heute hart geblieben. Sie hatte sogar schon einmal vor ihm geweint, was sie sonst niemals tat.
Es hatte nichts genutzt. Ihr Bruder Jamie, den sie abgöttisch liebte, mochte sie nicht mehr.
Und darüber war sie sehr traurig.
Langsam schlenderte sie zur Schule hinüber. Auf dem Schulhof war es ruhig, was wohl daran lag, dass sie schon zu spät dran war. Die Zeit des Unterrichts war bereits angebrochen.
Sie rannte die Treppe hoch zu ihrem Klassenzimmer und riss die Tür auf. Alle waren bereits da. Mathematiklehrer Altman saß wie gewohnt hinter seinem Pult, ein Stück Kreide in der rechten Hand. Altman spitzte die Kreide immer mit seinem kleinen Taschenmesser an, um sauberer schreiben zu können.
Das Stück in seiner Hand war jedoch bereits ziemlich abgenutzt, obwohl es erst der Anfang der Mathematikstunde war.
Mr. Altman ging vornehm über Lindas Verspätung hinweg, was er eigentlich immer tat. Linda mochte ihren Mathematiklehrer sehr, denn er war noch nie gemein zu ihr gewesen. Sie war auch eine gute Schülerin, und es tat ihr immer leid, wenn es mal in einer Mathematikarbeit zu keiner guten Note gereicht hatte. Es tat ihr leid, wenn sie Mr. Altman enttäuschte.
Andere in der Klasse mochte sie wiederum nicht. Da tat es ihr überhaupt nicht leid, wenn denen irgendetwas passierte, das vielleicht nicht so schön war.
Da war zum Beispiel Kevin Summers, der Nachbarjunge. Der hatte sie noch nie leiden können, obwohl sie ihm niemals etwas getan hatte. Kevin war ein dicklicher, nicht sehr begabter Junge mit einem etwas dumpfen Gesichtsausdruck. Er hatte sie ständig gehänselt, seitdem er mit seinen Eltern in das Haus nebenan eingezogen war. Noch bevor sie zusammen in dieselbe Klasse gekommen waren.
Und anscheinend nur, weil sie zwei verschiedene Augenfarben hatte. Dazu konnte sie nichts, denn so war sie geboren worden. Ihr rechtes Auge war braun, das Linke grün. Sie selbst fand das überhaupt nicht schlimm, aber einige Dummköpfe hatten sie immer und immer wieder deswegen gehänselt.
Besonders Kevin hatte sich darüber immer lustig gemacht, bis sie es eines Tages nicht mehr hören wollte. Bis sie ihm eines Tages Dinge sagte, die er sich dann offenbar zu Herzen nahm.
Seitdem hatte sie Ruhe vor ihm.
Linda nahm ihr Rechenheft aus der Schultasche und schlug es auf.
Sie hatte schon seit Tagen nichts mehr in das Heft geschrieben, und die letzte Aufgabe, die sie gerechnet hatte, stand noch immer vorne an der Tafel zu lesen.
Mr. Altman saß weiterhin schweigsam hinter dem Pult und rührte sich nicht. Die Kreide noch immer in der Hand. Die ganze Klasse war ruhig, in Arbeit vertieft. So sah es
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