Gorian 1: Das Vermächtnis der Klingen
seine Gedanken zu lesen. Lag das vielleicht an ihm selbst? Hatte er diesem Wesen und seinen Einflüsterungen trotz aller Vorsicht zu viel Raum in seinem Inneren gegeben, sodass es sich dort hatte ausbreiten können? Vielleicht beeinflusste es ihn sogar schon mehr, als er es wahrhaben wollte. »Es ist in der Nähe des Tempels – aber allein würdest du es nicht finden, dafür hat dein Vater gesorgt. Aber ich kann dich hinführen! Und wenn du den Bann löst …«
Vor Gorians innerem Auge erschien Ar-Don in jener Gestalt, zu der er geworden war, nachdem er Meister Domrich getötet hatte. » Warst du nicht ein viel kleineres Wesen, als du versucht hast, mich umzubringen?«, fragte er den Gargoyle in Gedanken.
»Meine Gestalt ist veränderlich und ebenso die Anteile jener Elemente, die meinen Charakter bilden!«, lautete Ar-Dons Antwort. »Ar-Don ist viele und doch er selbst. Morygor wollte, dass Ar-Don Meister Domrichs Kraft in sich aufnimmt und seine Seele. Aber es sollte nicht zu viel davon erhalten bleiben … Ah, dieser Schmerz der Erinnerung …«
Tagtraumartig sah Gorian, wie ein Schatten auf das Mischwesen aus Gargoyle und Meister Domrich fiel. Die Gesichtszüge veränderten sich, und dann wurden sie von Furcht dominiert. Ein Blitz zuckte, ließ das steinerne Wesen in mehrere Einzelteile zerspringen, die sich wimmernd wieder zusammenfanden und durch weitere grellweiße Lichtstrahlen erneut geteilt wurden.
»Sei stark, aber nicht zu stark!«, sagte eine Stimme, die nur Morygor gehören konnte.
Das Wesen, das sich schließlich zusammenfügte, hatte nicht einmal mehr die Größe einer Katze. Es wimmerte, bildete vor lauter Furcht ständig neue Flügel aus, von denen keiner dem anderen glich, und rollte sich dann zusammen, sodass man für einen Moment glauben konnte, nichts weiter als einen gewöhnlichen, durch Wind und Wetter geformten Gesteinsbrocken vor sich zu haben.
Die Bilder vor Gorians innerem Auge verschwammen. Sie verwischten zu einem Chaos unterschiedlicher Farbschattierungen, wobei kaltes Blau und Grau vorherrschten.
»Hilf mir, Gorian, und ich werde dir helfen! Sieh all den Hass, der in mir ist! Den Hass des geschundenen Meisters Domrich, der sich erst entfalten konnte, nachdem dein Vater mich zerschlug, denn dadurch befreite er mich von Morygors Bann …«
»Wer garantiert mir, dass du Morygor nicht erneut dienen würdest? Wer sagt mir, dass du nicht als Erstes deinen Mordauftrag zu Ende bringst, den du vor sechs Jahren nicht ausführen konntest?«, dachte Gorian.
Zunächst schien ihm Ar-Dons Geist die Antwort auf diese Fragen schuldig zu bleiben. Dann erreichte ein Gedanke von ungewöhnlich hoher Intensität und Überzeugungskraft Gorian. Ein Gedanke, der ihn zumindest für einen Moment jeglichen Zweifel vergessen ließ.
»Meister Domrich schwört dir bei seiner Ehre als Ordensmeister Beistand!«
Beliak wurde plötzlich von Unruhe ergriffen. Er kniete nieder, legte eines seiner großen Ohren auf den Boden und meinte dann plötzlich: »Leichte Bodenerschütterungen … Das könnten Schritte von Eiskriegern sein!«
Entweder hatte Beliaks Aufmerksamkeit in den letzten Stunden nachgelassen, oder die Eiskrieger hatten all das vermieden, woran ein Adh sie auch über größere Entfernungen hin auszumachen vermochte – jedenfalls waren am Waldrand auf einmal Geräusche zu hören.
Gorian und Beliak liefen zum anderen Ende des Dorfes, wo sich die alte Straße nach Segantia in Richtung Südosten fortsetzte, doch Beliak stutzte plötzlich, und einen kurzen Augenblick später erkannte Gorian auch, weshalb.
Zwischen den Sträuchern kamen mehrere Frostkrieger hervor, allesamt untote Orxanier. Brüllend und ihre Waffen schwingend stürzten sie sofort auf Gorian und Beliak zu.
Der Erste griff Gorian mit wuchtigen Schwertschlägen an. Er führte sein gespaltenes Schwert beidhändig, und gleich die erste Attacke verfehlte den zurückweichenden Gorian nur um Haaresbreite. Eine dichte Folge von Hieben drängte Gorian weiter zurück, während Beliak bereits mit zwei, drei anderen Gegnern in einem Kampf verwickelt war.
Sie wurden umzingelt, und die rauen Rufe der Frostkrieger schallten durch das von den Eiskrähen so furchtbar heimgesuchte Dorf. Gorian wich einem weiteren Hieb aus, der allerdings noch sein Wams in Brusthöhe ritzte. Er taumelte und kam zu Fall, weil sich etwas schlangengleich um seinen Fuß schlang. Es war eine lange Lederpeitsche, wie man sie in Eisrigge und dem Norden Orxaniens zur
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