Gorian 1: Das Vermächtnis der Klingen
und so sah Gorian jedes blutige Detail jener Vergangenheit, die sich wohl in dieser grausamen Deutlichkeit in die Erinnerungen Ar-Dons gegraben hatte wie Linien eines Reliefs in kalten Stein.
Der Gargoyle betrat das Verlies, und der Wunsch zu töten war selbst in der Erinnerung so übermächtig, dass sich Gorian dabei ertappte, für einen kurzen Moment sogar Verständnis für den kleinen Steindrachen zu empfinden. Verständnis dafür, dass er dem Befehl seines Herrn und Meisters Morygor um jeden Preis Folge leisten wollte. Der Gargoyle änderte seine Farbe. Er war zunächst feuerrot, glich sich aber seiner kalten, eisigen Umgebung an, sodass sein Äußeres Ähnlichkeit mit einem im Flug gefrorenen großen Wassertropfen bekam.
Meister Domrich hob den Kopf. Für einen Moment wurden seine Augen pechschwarz. Er sammelte offenbar den letzten Rest an magischer Kraft, den er noch aufbringen konnte, doch die Schwärze in seinen Augen flackerte unruhig, wie Gorian es bei seinem Vater niemals gesehen hatte. Trotzdem war ihm sofort klar, dass dies ein Zeichen der Schwäche war.
Dann gruben sich die nagelähnlichen Steinzähne des Gargoyle in den Körper des Schwertmeisters. Blut spritzte, und schließlich sackte Domrich tot in sich zusammen.
Doch Ar-Don ließ nicht von ihm ab. Seine Flügel verwandelten sich zu langen Armen, an deren Enden sich stachelähnliche Spitzen befanden. Mit ihnen stach er in den Körper des Schwertmeisters, der sich daraufhin verwandelte. Menschliches Fleisch wurde zu jenem magischen Gestein, aus dem auch der Gargoyle bestand. Beide verschmolzen miteinander, formten eine gemeinsame Gestalt, die Elemente eines Menschen und eines Gargoyle in sich vereinten.
Das zuvor gerade mal katzengroße Wesen legte daraufhin deutlich an Masse zu, und ein Gargoyle von der Größe eines Menschen entstand. Er breitete zwei unterschiedlich große Flügel aus, die sich veränderten und sich innerhalb weniger Augenblicke einander anglichen. Das Gesicht wirkte echsenhaft, zeichnete aber auch die ausgemergelten Züge Domrichs nach.
Zunächst stand das Wesen auf den beiden erschreckend menschlichen Hinterbeinen, die sich jedoch in die stämmigen Beine einer Echse verwandelten, während die vorderen Gliedmaßen zu krallenbewehrten Pranken wurden.
»Ar-Don ist Domrich, und Domrich ist Ar-Don,« wisperte die Stimme in Gorians Kopf, die sich veränderte, sodass sie eine entfernte Ähnlichkeit mit jenen Schreien hatte, die Gorian so durch Mark und Bein gefahren waren. »Ich werde dir helfen, denn Domrich hasst Morygor wie sonst niemanden in allen Welten des Polyversums« , drangen die Gedanken des Gargoyle geradewegs in Gorians Geist und mischten sich auf eine Weise mit seinen eigenen Gedanken, dass es für ihn immer schwerer wurde, beides auseinanderzuhalten. »Du brauchst einen Verbündeten, und ich werde dich schützen … Aber dafür musst du mich befreien!« , flüsterte der Gargoyle ihm mit der Stimme von Meister Domrich ein.
»Gorian?«, drang in diesem Moment Beliaks Ruf in seine Gedanken. »Gorian, träumst du mit offenen Augen, oder was ist los mit dir? Vielleicht hättest du doch meinen Rat befolgen und dich ausruhen sollen. Schlaf ist für Menschen weitaus wichtiger als für Angehörige der robusteren Rassen.«
Die Bilder und Stimmen verschwanden augenblicklich. Gorian sah den Adh an. Die Eindrücke, mit denen Gorians Geist soeben förmlich überflutet worden war, waren sehr intensiv gewesen und hatten ihn glauben lassen, dass eine längere Zeit vergangen war, doch das war nicht der Fall. Ein Ruck ging durch seinen Leib. Er konzentrierte sich auf die Alte Kraft, so wie sein Vater es ihm gelehrt hatte, und versuchte die Kontrolle über seinen Geist zurückzuerlangen. Alles, was an Einflüsterungen des Gargoyle – oder doch Meister Domrichs? – darin noch herumspuken mochte, musste getilgt werden.
»Was gibt es, Beliak?«, fragte er, und seine eigene Stimme hörte sich in seinen Ohren an wie die eines Fremden. Ein Zeichen dafür, wie sehr dich diese Einflüsterungen schon beeinflusst haben, meldete sich eine warnende Stimme in seinem Hinterkopf.
Schon ertappte er sich dabei, dass ihm die Gedanken, die sich bei ihm eingenistet hatten, zumindest zum Teil durchaus plausibel erschienen und gar nicht nur als der Versuch, ihn zu einem Werkzeug eines fremden Willens zu machen. War es denn nicht wirklich so, dass er nichts so dringend brauchte wie Verbündete und Helfer? Schließlich hatte er sich mit dem Sturz
Weitere Kostenlose Bücher