Gorian 2
längerer Zeit wieder gedankliche Verbindung zu ihm suchte. Aber in diesem Augenblick trat es für ihn vollkommen in den Hintergrund. Zu sehr nahm ihn gefangen, was sich vor ihm ereignete.
Wie leicht wäre es in diesen Momenten gewesen, in das geheimnisvolle Reich des Geistes einzudringen. Er hatte
den Eindruck, lediglich dem ohnehin nahezu übermächtigen Drang nachgeben zu müssen, der ihn mit fast unerträglicher Intensität erfüllte. Sich einfach nicht mehr abschirmen, sich nicht mehr dagegen wehren und in diesem Meer aus Wissen und Erkenntnis und verborgenen Möglichkeiten eintauchen – das war es, was er im Moment so sehr wollte wie nichts anderes. Selbst der Wunsch, Morygor zu vernichten, stand dahinter zurück.
Schließlich verebbte der Strom aus Licht, und es erhoben sich aus der messingfarbenen Metalltruhe auch keine Schriften mehr, die von dem Kristall aufgenommen wurden.
Die Truhe schloss sich, schwebte langsam zurück auf ihren Platz vor dem Altar, und auch das Glühen, das sie bis dahin erfüllt hatte, erlosch.
Ein Gefühl der Rastlosigkeit und Unruhe erfüllte Gorian, die Empfindung, an einem Wendepunkt zu stehen und handeln zu müssen. Wenn er jetzt nicht ins Reich des Geistes eindrang, würde er vielleicht nie wieder Gelegenheit dazu bekommen. Sollte er warten, bis die Caladran ihre Vorbehalte aufgaben, die sich gegen jeden Fremden richteten, und ihm den Zugang gewährten? Würde ihn der Namenlose dann nicht wieder davon abhalten? Der war im Moment noch auf das Ritual konzentriert, und daher konnte Gorian auch verhindern, dass er in seine Gedanken eindrang.
Die Farbe des Kristalls änderte sich. Das weiße Leuchten verschwand, und er erinnerte erst an einen Diamanten und wenig später an schmutziges Eis.
Gorians Augen wurden schwarz. Er hatte das Gefühl, noch nie zuvor so viel von der Alten Kraft in sich gesammelt zu haben. Er musste es tun, dem Drang nachgeben. Überall erschienen – zumindest für seine Augen – Kolonnen von Runen, auf dem Marmorboden, den Wänden und unter der
kuppelartigen Decke, und die Gedankenstimmen aus dem Reich des Geistes übertönten wenige Augenblicke später den Sprechchor der Schamanen und alle anderen Eindrücke.
Gorian streckte beide Hände aus. Blitze zuckten aus seinen Fingerspitzen und erfassten den Kristall, der wieder zu strahlen anfing.
Auf einmal schoss ein greller Lichtblitz daraus hervor, traf Gorian und schleuderte ihn zurück.
Alles, was er sah, war dieses Licht, das zunächst angenehm war, dann aber Wellen des Schmerzes durch seinen Körper und seinen Geist sandte. Er hatte das Gefühl zu fallen.
Licht und Kälte umgaben ihn – und Kolonnen von Caladran-Runen, deren Schwärze sich schließlich ausbreitete und sich wie ein dunkles Leichentuch über seinen Geist legte.
Dann war da nichts mehr.
Gar nichts.
20
Orawéen
Lange Zeit herrschte nur Leere in ihm. Da war kein Geist, keine Erinnerung, keine Empfindung und kein Wille mehr.
»Gorian!«
Ein Gedanke. Ein Name.
Zuerst mutete er ihm fremd an, so wie der Name von jemandem, den man lange nicht mehr gesehen hat und an den man sich kaum noch erinnert.
»Gorian, wacht auf!«, drängte ihn erneut ein Gedanke, von dem er zumindest wusste, dass es nicht sein eigener war. » Öffnet die Augen, oder Ihr werdet sie vielleicht für immer geschlossen halten.«
Gorian gehorchte und wurde zunächst von grellem Licht geblendet. Es dauerte ein wenig, ehe sich sein Blick klärte.
Eine Gestalt hob sich gegen die Helligkeit ab, die durch ein Fenster fiel. Dann kehrte Stück für Stück die Erinnerung zurück. Die Erinnerung an den Kristall, diesen einzigartigen Zugang zum geheimnisvollen Reich des Geistes der Caladran.
Gorian lag auf einem weichen Lager aus einem ihm unbekannten Material, das sich bei jeder noch so geringen Bewegung seinem Körper anpasste.
Er setzte sich auf. Der Raum war hell und sehr spartanisch
eingerichtet. Das Fenster schien glaslos, was Gorian im ersten Moment verwunderte. Sollten die edlen Caladran hinsichtlich ihrer Wohnkultur nicht einmal das Niveau der Westreicher erreicht haben, deren Glaserkunst in ganz Ost-Erdenrund berühmt war?
»Ihr wisst es besser« , meldete sich die Gedankenstimme wieder in seinem Kopf. Und tatsächlich, plötzlich sah er ein schwaches Flimmern in dem offenen Fenster.
Die Gestalt hob die Hand, und das Fenster verdunkelte sich. Magisches Glas, erkannte Gorian. Fast unsichtbar, und doch selbst für einen abgeschossenen Armbrustbolzen nicht zu
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