Gorian 2
wird das nicht sein, Gorian. Wir alle sind erstaunt darüber, dass Ihr diesen törichten Versuch überhaupt überlebt habt und auch nicht in einen Zustand geistiger Umnachtung gefallen seid. Die einzige Erklärung dafür ist Euer einzigartiges Talent. Zumindest für menschliche Begriffe ist es einzigartig. Aber jetzt solltet Ihr Euch erholen. Unsere Beratungen hinsichtlich des Weges, den wir in Zukunft einschlagen, werden noch eine Weile andauern. Ihr müsst wissen, dass wir Caladran nicht gerade ein besonders entscheidungsfreudiges Volk sind.«
»In dieser Situation ist das mehr als bedauerlich«, entgegnete Gorian, und Enttäuschung schwang unüberhörbar in seinen Worten mit.
Orawéen bewegte sich in Richtung Tür. Ihr fließendes Gewand raschelte dabei auf ganz besondere Weise.
»Wartet!«, forderte er. »Ich möchte genau wissen, was geschehen ist. Und was es mit diesem Kristall auf sich hat.«
»Später«, verweigerte sie ihm zunächst die Auskunft.
Gorian sprach weiter, als hätte er ihre Antwort überhört. »Und ich muss wissen, was für eine magische Apparatur auf der Insel Pela errichtet wird. Könnte sie uns helfen, Morygors Einfluss zurückzudrängen und vor allem den Schattenbringer zu vertreiben?«
Ein Ruck durchfuhr Orawéens schlanken Leib. Sie drehte sich herum, und ihr sehr ebenmäßiges Gesicht zeigte zum ersten Mal einen Ausdruck des Erstaunens. »Von dem Geheimnis auf Pela könnt Ihr nicht aus dem Reich des Geistes oder von seinen Abstrahlungen erfahren haben«, stellte sie in Gedanken fest. » Vielleicht seid Ihr sogar noch unberechenbarer, als wir alle bisher dachten. Und möglicherweise haben wir diesen Faktor nicht gebührend in unsere Überlegungen miteinbezogen. Eure Kraft und Euer Potenzial scheinen die unserer Magier und Schamanen
zu übertreffen, vorausgesetzt man schöpft die verborgenen Möglichkeiten aus.«
»Also gut«, sagte sie dann laut. »Ihr sollt erfahren, was mit Euch geschehen und wie die Lage im Moment ist. Ihr scheint keine Schonung zu brauchen.«
»Sagt mir alles über diesen Kristall«, verlangte Gorian, denn der Zugang zum Reich des Geistes erschien ihm am wichtigsten zu sein.
»Einst lebten unsere Vorfahren auf dem Kontinent im Westen, den Ihr West-Erdenrund nennt, während wir ihn das Zwischenland nennen – oder auch das Falsche Bathranor.«
»Das Falsche Bathranor …«, murmelte Gorian.
»Unser Volk suchte nach den Gestaden der Erfüllten Hoffnung. Bathranor. Und für eine Weile glaubten einige unserer Vorfahren, es dort im Westen gefunden zu haben.«
»Und noch heute nennt ihr Caladran diesen Kontinent so.«
»Nach Meinung mancher Caladran beruht das auf einem Irrtum. Aber der Name blieb. Unsere Vorfahren lebten dort unter der Herrschaft von Fürst Bolandor, in einem Reich, in dem die Zeit langsamer als überall sonst verging, weil die Bewohner dieses Landes mit den Geistern ihrer Vorfahren lebten. Ein Magier namens Andir, der als Erster das Reich des Geistes fand und dort viele Jahre verweilte, schuf nach vielen Versuchen den Kristall, den Ihr in der Halle des Geistes gesehen habt. Alles, was unsere Vorfahren und Nachkommen je an Erkenntnis gewonnen haben oder noch gewinnen, sollte in diesem Kristall bewahrt werden.«
»Das gesammelte Wissen Eures Volkes.«
»Der Magier Andir wollte, dass dieses Wissen die Zeiten überdauert und allen Caladran zur Verfügung steht. Bevor er endgültig in das Reich des Geistes einging, übergab er
den Kristall Fürst Bolandor. In dessen Reich, in dem die Zeit langsamer verging, glaubte Andir dieses Artefakt am sichersten.«
»Und wie ist es hierhergelangt?«, fragte Gorian. »Die Gedankenstimmen machten darüber nur dunkle Andeutungen.«
Orawéen lächelte huldvoll. Ein Lächeln, das von einer ganz besonderen Mischung aus Überlegenheit und Nachsicht geprägt war. »Na, was glaubt Ihr wohl? Natürlich war es Raub. Aber das wird selten erwähnt, weil kein Geringerer als der Erbauer der Himmelsschiffe darin verwickelt war, unser allererster König und der Vorfahr meines Gemahls. Doch die Wahrheit ist nun einmal die Wahrheit. Ihre Folgen sind auch dann spürbar, wenn man sie ignoriert.«
»Caladir!«, erkannte Gorian. »Ihr sprecht vom ruhmreichen Caladir! Er hat den Kristall geraubt!«
»Ja. Er war der Sohn von Fürst Bolandor, den dieser noch in einem Alter zeugte, das selbst für unser Volk sehr hoch ist. Ein Sohn der Freude, so hat er ihn genannt, aber er sollte nicht viel Freude an ihm haben. Caladir war das
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