Gorian 2
Caladran, die in weiße Kutten aus fließendem Stoff gehüllt waren, um Schamanen handelte, deren Aufgabe es war, das Schicksal zu sehen und die Verbindung zu den Toten und dem Reich des Geistes zu pflegen. Die andere Gruppe, die neben den Kriegern klar abgegrenzt war, waren die Magier. Sie trugen handgroße messingfarbene Amulette, in die Ligaturen von Caladran-Runen eingraviert und die manchmal mit Edelsteinen ausgelegt waren. Die Aufgaben der Magier waren profaner als die der Schamanen, sie sorgten dafür, dass die Himmelsschiffe ihre Flugfähigkeit behielten, dass der Zauber der Gewichtslosigkeit in den Schächten einwandfrei funktionierte, und führten Ausbesserungsarbeiten am Stadtbaum mittels Magie durch. Früher waren sie auch an den Kriegen der Caladran beteiligt gewesen, aber es war schon sehr lange her, dass dieses Volk überhaupt einen Krieg geführt hatte.
Vielleicht zu lange, um sich nun leichten Herzens einem Bündnis mit anderen Völkern anzuschließen und sich einem übermächtig erscheinenden Feind entgegenzustellen.
Gorian war erpicht darauf, noch mehr zu erfahren, und versuchte zugleich, sich so gut wie möglich abzuschirmen, denn er wollte den Namenlosen Renegaten auf keinen Fall beunruhigen. Er war bereits entschlossen gewesen, die Magie dieses Volkes zu erlernen, bevor er mit seinen Gefährten die Inseln der Caladran erreichte, nun aber erschien es ihm sogar als absolut unumgänglich, wenn er Morygor gegenübertreten und dessen Herrschaft beenden wollte. Nicht zuletzt
deshalb, weil Morygor selbst ein Caladran gewesen war, auch wenn er sich inzwischen stark verändert hatte und zu einer ganz anderen Kreatur geworden war, die das Bild eines Caladran-Jünglings nur noch als eine Erscheinungsform benutzte, die weniger erschreckend wirkte als seine wahre, verborgene Gestalt.
Die Schamanen begannen Formeln zu sprechen und bildeten dabei einen Chor, getragen von tiefen, kehligen Stimmen. Gorian war erstaunt, wie viele dieser Formeln, die sie aneinanderreihten, ihm irgendwie bekannt vorkamen. Und hin und wieder begriff er sogar ihre Bedeutung. Nein, sein Entschluss stand fest, er musste mehr von diesem Wissen erlangen. Offenbar hatte er schon von Natur aus eine besondere Verbindung dazu. Anders war es nicht zu erklären, dass er die Abstrahlungen vom Reich des Geistes bereits so intensiv in sich aufgenommen und nur er die fluktuierenden Runen auf dem Marmor gesehen hatte und keiner der anderen.
Während der grelle Lichtstrahl aus dem Kristall weiterhin die metallene Truhe traf, glühte sie förmlich auf und schwebte langsam empor. Der Chor der Schamanen schwoll an. Gorian empfing ihn zusätzlich noch als Gedankenstimmen mit besonderer, aber nicht unangenehmer Intensität, was zunächst nicht der Fall gewesen war.
Wie auf ein geheimes Zeichen hin hoben die Magier die Hände, und nadelfeine, kaum sichtbare Strahlen schossen aus ihren Fingerspitzen und trafen den Kristall auf dem ovalen Altar.
Als die Truhe ungefähr zwei Mannlängen darüber schwebte, kam sie zum Stillstand und öffnete sich. Durchscheinende Ebenbilder von dicken Folianten schwebten aus der Truhe, wie sie zu Tausenden in der Bibliothek von Felsenburg
gestanden hatten, aber auch Schriftrollen, manche in durchscheinenden köcherartigen Behältern.
All diese Erscheinungen schwebten auf den Kristall zu und wurden in ihn aufgenommen.
»Kristall des Geistes, öffne dich!«, murmelten die Schamanen, und die Klarheit und Selbstverständlichkeit, mit der er diese Worte verstehen konnte, erschreckte Gorian im ersten Moment.
Der König, der bis dahin wie gebannt das Geschehen um den Kristall beobachtet hatte, drehte sich um und richtete den Blick auf den Namenlosen.
Dieser schien genau zu wissen, was zu tun war. Er schritt nach vorn, sich der Aufmerksamkeit aller bewusst. Hier und dort tauschten einige Caladran Blicke und Gedanken aus, vor allem Mitglieder des Kronrats, die nicht auf gleiche Weise geistig in das Ritual eingebunden waren wie Schamanen und Magier.
»Ich gebe zurück, was ich dereinst durch Magie vom Reich des Geistes trennte«, sandte der Namenlose einen Gedanken, der klar und durchdringend genug war, dass zumindest jeder der Caladran im Raum ihn vernehmen konnte.
Für Gorian galt das ebenfalls.
Eher beiläufig nahm er auch einen Gedanken von Sheera wahr, der pure Verwirrung signalisierte. » Gorian …« Bevor sie den Stadtbaum von Caladran erreicht hatten, hätte sich Gorian unendlich darüber gefreut, dass Sheera nach
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