Gorian 2
Gondel war mit einer deutlich höheren Anzahl von Seilschlangen gesichert, als es Gorian vom letzten Flug mit dem Nordlandfahrer in Erinnerung hatte.
»Vielleicht erwartet er besondere Schwierigkeiten auf dieser Reise«, lautete Sheeras Vermutung, die Gorians Gedanken las. »In meiner oquitonischen Heimat erzählt man sich allerlei Geschichten über das Landesinnere von Gryphland.«
»Es gelangen nicht viele Fremde dorthin, und unbekannte Gebiete eignen sich immer für Schreckensgeschichten«, gab Gorian zurück.
Sie sah ihn von der Seite her an und schien zu spüren, dass ihn irgendetwas sehr stark beschäftigte, aber sie sandte ihm nicht einmal einen fragenden Gedanken – und dafür war er ihr in diesem Augenblick sehr dankbar. Nein, was sich am vergangenen Abend in Meister Thondarils Zelle abgespielt hatte, sollte zwischen ihm und seinem Meister bleiben. Für alle Zeiten. Vor allem Torbas durfte nie davon erfahren.
Auch Thondaril, Torbas und Aarad traten ins Freie. Eigentlich hatte Gorian erwartet, dass der Heiler als besonderer Kenner des Landes sie nach Felsenburg begleiten würde. Aber Aarad hatte offensichtlich andere Pläne, denn
er trug nicht einmal eine Waffe, geschweige denn irgendwelches Gepäck bei sich.
»Meister Aarad wird leider nicht mitkommen«, erklärte Thondaril seinen Schülern. »Wir sind zu dem Schluss gelangt, dass jemand am Hof bleiben sollte, falls sich das Befinden der Königstochter überraschend wieder verschlechtern sollte. Sie ist noch geschwächt, und sollte ihr Gesundheitszustand plötzlich wieder umschlagen, kann sich das erheblich auf unser Bündnis mit Demris Gon auswirken.«
Centros Bals Greif erreichte das Felsplateau, und die Gondel sank herab, bis sie sanft aufsetzte.
Fentos Roon, der Zweite Greifenreiter, öffnete ihnen die Gondeltür, und Gorian und seine Gefährten stiegen ein. Die Seilschlangen strafften sich und stießen dabei ein Zischen aus, dann hob sich die Gondel wieder. Als Gorian wenig später aus einem der verglasten Fenster sah, schwebten sie bereits hoch über Gryphenklau.
»Ich bin gespannt, ob uns die Schriften von Felsenburg wirklich helfen«, hörte er Torbas neben sich sagen. »Ich habe da so meine Zweifel. Schon deswegen, weil niemand von uns die Caladran-Sprache beherrscht.«
»Nun, ich verfüge zumindest über gewisse Grundkenntnisse«, erklärte Thondaril. »Und die Schrift beherrsche ich gut genug, um den Wert eines Buches oder einer Schriftrolle einigermaßen ermessen zu können.«
»Habt Ihr je die Magie der Caladran ausprobiert?«, fragte Gorian interessiert.
»Das zu versuchen kann ich keinem empfehlen. Zumindest niemandem, der sie nicht wirklich beherrscht, und das sind wohl nur die Caladran selbst. Und auch die haben angeblich viel von ihrem früheren Wissen verloren.«
»Man sagt, die goldäugigen Spitzohren vermochten früher
sogar mit ihren Himmelsschiffen zu den Sternen zu fliegen«, sagte Torbas. »Aber dieser Teil ihrer Magie scheint wohl auch in Vergessenheit geraten zu sein …«
Stunden gingen dahin, in denen sie über das zerklüftete Innere Gryphlands flogen. Der Verborgene Gott musste diese Landschaft in einer Laune unbändigen Zorns geschaffen haben. Schroffe, wie Messer aus geschliffenem Stein in die Höhe ragende Felsmassive wechselten sich mit tiefen, schmalen Schluchten ab, in denen ewiger Schatten herrschte.
In vielen der Felsmassive befanden sich die Wohnhöhlen einzelner Greifenreiter und ihres Gefolges, wie Fentos Roon ihnen erklärte. Er, der Zweite Greifenreiter Centros Bals, schien gar nicht mehr damit zu rechnen, auf diesem Flug überhaupt zum Einsatz zu kommen. Jedenfalls trug er keinen der gefütterten Greifenreiteranzüge aus Leder, die in besonderer Weise vor der Höhenkälte schützten, sondern ein gewöhnliches Wams und eine eng anliegende Hose.
Der Dritte Greifenreiter hörte der Unterhaltung nur interessiert zu. Gorian kannte ihn nicht. Es handelte sich jedenfalls nicht um denselben jungen Mann, der den Flug zum Speerstein von Orxanor als zweiter Ersatzmann mitgemacht hatte.
Später erfuhr Gorian, dass er Zog Yaal hieß und ein absoluter Anfänger in der Kunst der Greifenreiterei war. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger jedoch hatte er keinerlei Bedenken, einen Flug zu den Inseln der Caladran zu unternehmen.
Zog Yaal war ein schweigsamer junger Mann, dem das dunkle Haar bis zu den Augenbrauen in die Stirn fiel. Auch als Torbas ihn ansprach, antwortete er nur das Nötigste.
Fentos Roon
Weitere Kostenlose Bücher