Gorian 2
Speerstein und wäre dort um ein Haar gestorben«, fuhr Gorian fort. »Und die Gefahr, die Ihr bei diesem Unternehmen auf Euch genommen habt, war keineswegs geringer. Nun brauchen wir abermals einen Greifenreiter mit Eurem Mut und Eurer Unerschrockenheit.«
Centros Bal schwieg eine Weile. Er kratzte sich am Kinn, und auf seiner Stirn hatte sich eine tiefe Furche gebildet. »Ich könnte Euch von Felsenburg aus direkt nach Havalan fliegen«, sagte er schließlich in gedämpftem Tonfall. »Die Westreicher pflegen traditionell gute Beziehungen zu den Caladran, und Ihr werdet sicher schnell eine Galeere finden, die Euch ans Ziel bringt.«
»Ich hatte gehofft, Ihr wüsstet, wie mächtig unser Feind ist und dass die verrinnende Zeit sein größter Verbündeter ist«, sagte Gorian. »Abgesehen davon muss es ein Greifenreiter sein, der uns zu den Caladran begleitet. Wir wollen eine der gestohlenen Schriften zurückbringen, und dieses Signal wird nur dann richtig verstanden werden, wenn ein Gryphländer zugegen ist.«
»Dann sollte das besser ein Gesandter des Königs oder noch besser einer der Kronprinzen sein.«
»Meint Ihr die beiden Jünglinge, die sich gegenseitig belauern wie Oger-Ringer auf dem Jahrmarkt und nur hoffen und darauf warten, dass einer von ihnen nicht am Hof ist, wenn der König stirbt, sodass der andere dann die Macht an sich reißen kann?« Gorian schüttelte den Kopf. »Ihr habt
keinen Rang und kein Amt, und doch seid Ihr ein wesentlich besserer Botschafter Eures Landes. Ihr seid der Nordfahrer, und man wird selbst auf den Caladran-Inseln von Euch gehört haben.« Er atmete tief durch und steckte das Schwert wieder ein. »Sollten wir uns in Euch getäuscht haben, wäre dies sehr bedauerlich, denn es dürfte kaum jemanden geben, der Euch auf diesem Flug ersetzen könnte.«
»Manche Dinge muss auch ein Kaufmann um der Ehre willen tun«, mischte sich Rastos ein.
Centros Bal verzog das Gesicht. »Normalerweise würde ich nicht viel darauf geben, wenn ausgerechnet ein Zahlenmagier aus dem Land der Andobarianer-Verräter so etwas sagt. Es sei denn, sein Name ist Rastos.« Mit einer ruckartigen Bewegung wandte er sich Thondaril zu und sagte auf Heiligreichisch: »Er mag noch kein Meister des Ordens sein, aber ein Meister der Überredungskunst ist dieser junge Mann allemal. Wahrlich, dieses Talent würde ich mir bei manchem meiner Angestellten wünschen, die ich für teures Silber bezahle, um meine Waren an den Mann zu bringen.«
Thondaril hob die Augenbrauen. »Heißt das …?«
»Morgen früh bei Sonnenaufgang! Und seid bitte pünktlich, Meister Thondaril, damit wir am Abend in Felsenburg sind!«
Am Abend vor dem Aufbruch suchte Gorian seinen Mentor in dessen Zelle in der Ordensgesandtschaft von Gryphenklau auf.
Thondaril beendete gerade seine Übungen zur geistigen Versenkung. Seine Augen waren vollkommen schwarz und blieben es zunächst – ein Zeichen dafür, wie sehr er die Alte Kraft in sich gesammelt und konzentriert hatte.
Mit verschränkten Beinen und gegen die Schläfen gepressten
Daumen und Zeigefingern saß er auf der einfachen Pritsche.
»Wenn ich ungelegen komme, dann…«, begann Gorian und wollte schon wieder gehen.
»Dann hätte ich dich nicht hereingebeten«, sagte der zweifache Meister und ließ die Hände sinken. »Wir haben in der Tat miteinander zu reden. Und das sollten wir tun, ehe wir aufbrechen.«
Es hatte sich für sie, seit sie das Haus des Greifenreiters verlassen hatten, nicht mehr die Gelegenheit für ein Gespräch unter vier Augen ergeben.
»Meister, es tut mir leid, dass ich gegenüber Centros Bal derart vorgeprescht bin, obwohl Ihr mich ermahntet und …«
»Du hast eine sehr verharmlosende Weise, das auszudrücken«, fiel Thondaril ihm ins Wort und erhob sich.
»Ich war überzeugt, das Richtige zu tun.«
»Eine solche Überzeugung ist oft genug der Keim des Irrtums. Du hast Glück gehabt, dass sich die Angelegenheit in unserem Sinn entwickelt hat. Aber es hätte auch anders kommen können.« Thondaril atmete tief aus. »Stell dir vor, Centros Bal hätte abgelehnt. So viel Auswahl an Greifenreitern, denen wir trauen können, haben wir nicht. Wir hätten ihn auch später noch bitten können, uns zu den Caladran-Inseln zu fliegen, zu einem Zeitpunkt, da er die Notwendigkeit dazu womöglich eher eingesehen hätte. Notfalls hätte ich seinen Willen manipuliert, und da er über keine magischen Fähigkeiten verfügt, wäre das auch nicht allzu schwer
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