Gorian 2
über die Schattenpfade weiß, endet schon nach kurzem Aufenthalt in jener Zwischenwelt als vorzeitig gealterter Greis, dem jegliche Lebenskraft fehlt.« Noch einmal ermahnte er den neuen Schwertmeister und sprach mit großer Eindringlichkeit: »Komm also nicht auf die Idee, eigene Schritte in diese Richtung unternehmen zu wollen, nur weil dir im Moment ein Lehrmeister fehlt, der dir zeigen könnte, wie man auf den Schattenpfaden zu wandeln vermag, ohne Schaden zu nehmen. Hast du verstanden?«
»Jedes Wort. Und ich verspreche, nicht unbedacht zu handeln.«
Es war Thondaril nicht anzumerken, ob ihn die Versicherungen seines Schülers wirklich restlos überzeugten. »Gut. Es wird dir sicherlich noch möglich sein, auch die Ausbildung in den anderen Ordenshäusern fortzusetzen. Vorausgesetzt,
es gelingt uns irgendwie, Morygors Horden zumindest für einige Zeit aufzuhalten.«
Gorian hatte noch ein Anliegen. »Ich möchte Euch gewiss keine Ratschläge erteilen, Meister …«, begann er und suchte ganz offensichtlich nach den richtigen Worten.
»Das würde sich auch nicht geziemen«, erwiderte Thondaril. »Allerdings sagen die Axiome, dass die Wahrheit keinen Rang kennt. Und davon abgesehen bist du jetzt ein Meister wie ich. Dass du aber noch lange und in vielem auf den Rat des Erfahreneren hören solltest, ist natürlich eine andere Sache.«
Gorian nickte. Der Meisterring an seinem Finger drückte noch. »Meister Thondaril, da Ihr mich in den Rang eines Meisters erhoben habt, solltet Ihr auch Torbas diese Ehre zuteilwerden lassen.«
Thondaril hob die Augenbrauen. »So?«
»Er ist mir nicht nur ebenbürtig, sondern überlegen. Zwar gebe ich es ungern zu, aber in allen Übungskämpfen, in denen wir uns in letzter Zeit gemessen haben, und das waren viele, hat er mich besiegt, und hinsichtlich des magischen Talents dürfte er mir gleichwertig sein.«
»Und doch warst du es, der zum Speerstein gelangte, nicht er.«
»Mit Verlaub, Meister Thondaril, aber auch Ihr konntet mir nicht bis dorthin folgen.«
»Morygors Aura war zu stark.«
»Meister, ich bitte Euch inständig, Torbas den Ring nicht zu versagen. Er hat ihn ebenso verdient wie ich.«
»Du bist jetzt ein Meister und hast das Recht, dir Schüler zu suchen und sie auszubilden. Zumindest den Regeln des Ordens nach ist das so, auch wenn ich dir zum gegenwärtigen Zeitpunkt dringend davon abrate. Aber du wirst
niemals das Recht haben, meine Entscheidungen anzuzweifeln oder darüber zu befinden, wen ich zum Meister ernennen soll und wen nicht!« Die Furchen auf Thondarils Stirn waren tief geworden, und sein Gesicht, das ohnehin wie aus Stein gemeißelt wirkte, glich einer abweisenden Maske.
Vielleicht bin ich zu weit gegangen , dachte Gorian.
»O ja, das bist du!«, erreichte ihn ein Gedanke Thondarils. »Geh jetzt!«
Gorian nahm den Meisterring wieder von seinem Finger und legte ihn auf den Tisch. »Gebt ihn mir in dem Augenblick, da Ihr auch Torbas für würdig befindet, Meister.«
»Du bist ein Narr!«
»Möglicherweise. Aber Torbas und ich sind Gefährten. Ich habe ihm eines der Schwerter meines Vaters gegeben und werde auf ihn angewiesen sein. Wenn einer von uns ein Meister ist, während der andere Schüler bleibt, werden wir niemals den nötigen Zusammenhalt wiederfinden, den wir benötigen.«
Thondaril schwieg einen Moment. »Wiederfinden?«, fragte er dann in Gedanken, und der Blick, mit dem er Gorian bedachte, war so durchdringend, dass dieser glaubte, der zweifache Ordensmeister könnte bis auf den Grund seiner Seele sehen. »Was ist zwischen euch vorgefallen?«, hakte Thondaril unerbittlich nach.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Gorian. »Ich weiß nur, dass nichts mehr so ist, wie es sein sollte, seit wir aus dem Frostreich zurückgekehrt sind. Sollte Torbas nun auch noch diesen Ring an meinem Finger sehen, wäre das womöglich der entscheidende Schnitt, der das Band zwischen uns völlig durchtrennt. Doch das darf nicht geschehen. Es würde uns entzweien.«
Gorian atmete laut aus. Er fürchtete sich vor Thondarils Antwort.
Die bestand zunächst in einem nachdenklichen Schweigen. Dann nahm er den Ring und steckte ihn zurück in die Tasche. »Die Nacht ist kurz. Du solltest das, was von ihr geblieben ist, zum Schlafen nutzen … Schüler !«
Am nächsten Morgen standen Gorian und Sheera auf dem Felsplateau der Gesandtschaftshöhle und beobachteten, wie sich unten in Port Gryphenklau der Greif von Centros Bal in die Lüfte erhob. Die
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