Gorian 2
ganzen Landstrich. Wie eine Flechte eroberte es langsam Berg für Berg, und das dumpfe, dröhnende Stampfen aus der Tiefe war auch in Felsenburg nicht mehr zu überhören.
»Der alte Fluch kämpft sich an die Oberfläche und schüttelt den Bann König Song Mols ab«, murmelte Oras Ban.
»Und gleichzeitig rückt ein noch viel furchtbarerer Feind aus Nordosten auf Felsenburg zu«, ergänzte Thondaril. »Ihr solltet die Stadt räumen lassen.«
»Wir haben nicht genug Greifen hier auf Felsenburg, um die Flucht aller zu ermöglichen«, hielt Oras Ban dagegen.
»Ich habe bereits über Handlichtlesen Verbindung mit Meister Aarad in Gryphenklau aufgenommen, der sich an den König wenden wird, um für entsprechende Abhilfe zu sorgen.«
Oras Ban runzelte unwillig die Stirn. »Ohne dies mit mir abzusprechen?«
»Dazu war keine Zeit«, verteidigte sich Thondaril. »Bald wird hier eine Schlacht toben, wie Ihr noch von keiner gehört habt. Die Horden Morygors sind an den Städten Mituliens vorbeigezogen, ohne sie überhaupt zu beachten. Nun nähern sie sich aus Nordosten. Der Eiswind, der so vollkommen untypisch für dieses Land ist, kündet von ihrem Kommen.«
Oras Ban stieß schnaubend den Atem aus, der dicht vor Mund und Nase gefror und eine graue Wolke bildete. »Euer Handeln war voreilig«, hielt er Thondaril vor. »Gegenüber magischen Bedrohungen sind wir keineswegs so wehrlos, wie Ihr zu denken scheint.«
»Ihr rechnet damit, dass die Magie des Namenlosen Renegaten Euch helfen wird?«, fragte der zweifache Ordensmeister.
Oras Ban verzog keine Miene. »Ihr habt also erkannt, wer der Bibliothekar ist. Dann wisst Ihr auch, weshalb ich ihm nicht einfach befehlen kann wie einem gewöhnlichen Lakaien. Es wäre nicht möglich gewesen, die Schriften der Caladran so lange zu schützen ohne seine magische Hilfe.«
Seine pergamentartige Haut schien noch dünner als zuvor. Bläuliche Adern pulsierten darunter, und deutlich waren
die Knochen seines Gesichts zu sehen, das Gorian an einen Totenschädel erinnerte. Und doch verriet keine seiner Bewegungen irgendwelche Anzeichen des Alters. Dieser Widerspruch war Gorian schon am Anfang aufgefallen. Oras Ban war kein Caladran, dazu fehlten ihm nicht nur die spitzen Ohren, aber seine Ähnlichkeit mit dem alterslosen Namenlosen Renegaten war augenfällig.
»Du denkst an die bläuliche Substanz, von der er sich offenbar ernährt«, empfing Gorian einen Gedanken Sheeras. »Es handelt sich dabei um eine fremdartige Heilmagie. Ich kann sie überall spüren, aber sie ist mir vollkommen unbekannt.«
»Caladran-Magie?«
»Wer weiß.«
Hielt diese Heilmagie Oras Ban am Leben? Aber das konnte seine Tatenlosigkeit nicht erklären. Es musste einen anderen Grund geben, der ihn so gleichgültig gegenüber der nahenden Gefahr machte.
»Es steht Euch jederzeit frei, Felsenburg zu verlassen und zu den Inseln der Caladran aufzubrechen, so wie es Eurem ursprünglichen Plan entspricht«, sagte er zu Thondaril. »An Eurer Stelle würde ich die Zeit dazu nutzen, solange es noch möglich ist. Ich hingegen vertraue auf den magischen Schutz des Namenlosen Renegaten. Kein Caladran hat es je geschafft, die Schriften seines Volkes von hier zu stehlen – und glaubt nicht, es hätte keine entsprechenden Versuche gegeben.«
»Die Horden Morygors sind etwas anderes«, erwiderte Thondaril. »Ihr braucht nur hinauf in den Himmel zu blicken, zum Schattenbringer, der die Sonne immer mehr verdeckt, um mit eigenen Augen zu erkennen, dass Morygors Macht mit nichts vergleichbar ist. Ihr seid verloren, wenn Ihr hierbleibt, Oras Ban.«
»Ja, vielleicht«, murmelte der Königliche Verwalter. »Aber
wenn Ihr nicht aufpasst, dann seid Ihr und Eure Begleiter es vielleicht auch.«
Den Tag über geschah nicht viel, außer dass man von den Zinnen der Burg aus beobachten konnte, wie sich das Glutnetz der Feuerdämonen immer weiter ausbreitete. Gorian sah es mit Sorge. Thondaril versuchte immer wieder, zum Bibliothekar vorgelassen zu werden, aber der hatte den Zugang zu den Gewölben, in denen die gestohlenen Schriften untergebracht wurden, auf eine Weise verschlossen, dass man nicht einmal mehr mit den Mitteln herkömmlicher Magie dorthin vordringen konnte. Selbst die Anwesenheit des Namenlosen Renegaten war nicht mehr zu erspüren, seine Kraft schien nicht mehr vorhanden.
Die Wachen des Königlichen Verwalters von Felsenburg glaubten sogar, der Zugang zur Bibliothek sei zugemauert. Sie waren der festen Überzeugung,
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