Gorian 2
meine Existenz bewahren … Er ist das Gefäß meines Selbst, das aus so vielen Einzelteilen besteht und doch mehr ist als ihre Summe.«
Dieser Gedanke mischte sich mit Bildern des Schreckens und grauenhaften Schreien. Es handelte sich um bruchstückhafte Erinnerungen an die Schmerzen und Qualen, die Ar-Don und Schwertmeister Domrich, dessen Seele in ihn eingegangen war, einst erlitten hatten und die den abgrundtiefen Hass begründeten, den der Gargoyle gegen Morygor empfand.
Sheera war ganz auf Gorian und dessen Wunde konzentriert und murmelte eine Heilformel. Dann öffnete sie wieder die Augen und sagte: »Ich werde mich später genauer um deine Verletzung kümmern müssen.«
»Gut«, murmelte Gorian.
Während Zog Yaal, der Dritte Greifenreiter Centros Bals, etwas unschlüssig dastand, blickte Meister Thondaril angestrengt durch das große Gondelfenster hinaus.
Gorian und Torbas hatte er bisher keines Blickes gewürdigt, und selbst die Anwesenheit Ar-Dons schien ihm im Augenblick gleichgültig, obwohl er ansonsten nie einen Hehl daraus machte, dass er dem Gargoyle misstraute und ihn für eine Kreatur Morygors mit bestenfalls zweifelhafter Loyalität hielt.
Noch immer wollte er von den beiden Ordensschülern keine Notiz nehmen. Offenbar war das seine Art, seine Missbilligung über ihr Verhalten zu zeigen.
»Meister …«, ergriff Gorian schließlich das Wort, denn das Schweigen Thondarils war schlimmer, als es jede Zurechtweisung und jeder Vorwurf hätten sein können.
»Was willst du mir sagen, was ich nicht schon wüsste?«, unterbrach ihn Thondaril mit beinahe tonloser Stimme. »Dass du eine gute Seele wie Fentos Roon geopfert hast, um einen Gargoyle zu retten, von dem du nicht weißt, ob er nicht doch eines Tages seinen ursprünglichen Plan, dich zu töten, in die Tat umsetzen wird? Dass du dafür unsere gesamte Mission in Gefahr gebracht hast? Dass du um ein Haar die letzte und einzige Möglichkeit, Morygor noch zu besiegen, verschenkt hättest, weil du dein Leben so leichtfertig für nichts und wieder nichts aufs Spiel gesetzt hast? Ich kann in deiner Seele sehen, was geschehen ist, du brauchst nicht ein einziges Wort darüber zu verlieren. Dein
schlechtes Gewissen macht deine Gedanken so aufdringlich und laut, dass man sie nicht überhören kann.«
»Aber, Meister …«
»Schweig!«
»Wie könnt Ihr so etwas sagen? Wir haben in bester Absicht …«
»Schweig, sage ich! Genau das ist am unerträglichsten: diese Selbstgefälligkeit! Ich hatte vor allem dich für klüger eingeschätzt und bin bitter enttäuscht. Ist dir immer noch nicht klar, was deine Bestimmung ist und was alles von dir abhängen könnte? Sieh ab und zu mal zum Himmel, solltest du es vergessen haben! Da schiebt sich ein dunkler Schatten vor die Sonne, mit dem Morygor ganz Erdenrund in eine Eiswüste verwandeln will, und du beraubst uns fast der einzigen Hoffnung, dies zu verhindern! Es hätte nicht viel gefehlt, und alles wäre umsonst gewesen. Und das nur, um einen Steindämon zu retten. Es ist nicht zu fassen!«
Gorian schluckte. Er brauchte einen Augenblick, um sich zu fassen. »Habt Ihr vergessen, wer mich am Speerstein gerettet hat?«, fragte er dann in einem Tonfall, dessen Ruhe und Klarheit ihn selbst am meisten überraschte. »Und davon abgesehen haben die Fledermenschen Ar-Don dafür benutzt, die Feuerdämonen zu wecken, die ihnen vor langer Zeit fast selbst die Vernichtung brachten. Sie haben das getan, damit die Feuerdämonen Morygors eisigem Heerzug begegnen. Überall kommen sie hervor, und sie werden sich in großer Zahl den Horden des Frostreichs entgegenstellen.«
»Offenbar haben wir alle die magischen Fähigkeiten der Fledermenschen unterschätzt«, gab Thondaril zu. »Aber es ist nur ein Akt der Verzweiflung, den sie begangen haben. Ob er unserem Vorhaben, Morygors Herrschaft zu beenden,
nützt oder es eher behindert, wird die Zukunft zeigen.« Endlich drehte er sich herum. »Hat einer von euch beiden vielleicht mal darüber nachgedacht, welchen Eindruck eure Handlungsweise auf Oras Ban oder den Bibliothekar von Felsenburg macht? Aus irgendeinem Grund zögert man, uns die Schriften herauszugeben, die wir benötigen. Da wir nicht die Macht haben, sie uns einfach zu nehmen, werden wir Oras Ban und den Bibliothekar überzeugen müssen, es freiwillig zu tun, und das ist durch eure Eigenmächtigkeit nicht gerade leichter geworden!«
Vielleicht doch, ging es Gorian durch den Sinn, aber er behielt diesen Gedanken
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