Gorian 2
fragte Gorian nach einigem Zögern.
»Was Oras Ban angeht verdichtet sich alles auf eine einzige Wahrscheinlichkeit, so wie alle Flüsse einem großen Strom und schließlich dem Meer zufließen, auch wenn sie auf dem Weg dorthin manchmal über die Ufer treten und ihr Bett verändern.«
Der Namenlose Renegat ließ die messingfarbene Metallkiste ein Stück durch den Raum schweben und übergab sie dann mit einer Handbewegung dem Einfluss des Maskierten. Die beiden verständigten sich anscheinend stumm über ihre Gedanken, allerdings ohne dass Gorian davon etwas mitbekam. Er versuchte mithilfe seiner magischen Sinne zu erspüren, was genau sich in der Metallkiste befand, aber die Alte Kraft ließ ihn im Stich, er spürte nichts.
»Das liegt nicht an dir«, erklärte der Namenlose und beweis damit erneut, wie genau er Gorians Gedanken verfolgte. »Die Truhe schirmt ihren Inhalt vollkommen ab – zu ihrem eigenen Schutz und zu dem aller Unbedarften, die mit ihr in Berührung kommen.«
»Was ist da drin?«, verlangte Gorian zu wissen. »Welche Schriften und welche Art von Magie?«
»Auch wenn dein Meister dir seinerseits etwas voreilig den Rang eines Meisters verleihen wollte, bist du noch lange nicht so weit, das zu verstehen.«
Es versetzte Gorian einen Stich, dass der Namenlose sogar davon wusste. Er hatte nicht einmal Sheera oder Torbas davon erzählt.
Der Maskierte berührte die schwebende Kiste mit der flachen Hand. Eine Lichterscheinung flackerte kurz auf, und für einen Herzschlag lang schien es, als würde sein metallisch schimmernder Handschuh anfangen zu brennen. Die Truhe haftete daraufhin an seiner Handinnenfläche. Er trat auf ein Stück freie Felswand zu und verschwand darin, und die Truhe mit ihm.
»Er bringt unser wichtigstes Gepäckstück zu eurer Greifengondel«, erklärte der Namenlose Renegat.
»Ihr scheint das Einverständnis aller Beteiligten vorauszusetzen«, stellte Gorian missbilligend fest.
»Weder du noch deine Gefährten haben eine Wahl. Und genau darüber wirst du sie jetzt informieren.«
»Aber …«
»In Eurer primitiven menschlichen Spielart der Magie pflegt ihr eine Kunst, die ihr das Handlichtlesen nennt.«
»Gegenwärtig bin ich nicht in der Lage, meine Magie gezielt einzusetzen«, erinnerte ihn Gorian.
»Ich werde dir helfen.« Er trat an Gorian heran und legte seine Hand auf den Kopf des Ordensschülers, der auf einmal unkontrolliert zu zucken und zu zittern begann. Er hatte das Gefühl zu fallen und empfand einen furchtbaren Schmerz, der sich aber dann zu etwas anderem wandelte.
Kraft …
Der Namenlose nahm die dürre Caladran-Hand wieder fort. »Und nun verliere keine Zeit mehr!«
Gorian fügte die Handkanten zusammen, sodass seine Hände wie ein geöffnetes Buch wirkten. Ein Licht entstand, und Gorian spürte Erleichterung, als er das Gesicht von Thondaril sah.
Zugleich empfing er einen Gedanken Sheeras.
»Endlich! Was ist geschehen? Du warst wie tot und … «
Abrupt brach die Gedankenbotschaft ab – ebenso wie die Handlichtverbindung zu Thondaril.
Stattdessen erreichten Gorian Bilder, die direkt in seinem Kopf entstanden. Er sah durch Sheeras Augen, wie Oras Ban und ein Dutzend Wachen seine Gefährten mit gezogenen Waffen in die Enge trieben. Sie befanden sich auf dem höchsten Turm Felsenburgs. Torbas und Thondaril rissen augenblicklich ihre Klingen hervor und nahmen Kampfhaltung ein, wie sie im Haus des Schwertes gelehrt wurde.
»Rührt Euch nicht und legt Eure Waffen ab!«, hörte Gorian in seinem Kopf Oras Ban rufen. »Die Armbrüste meiner
Männer sind mit Bolzen aus Sternenmetall geladen, das so behandelt wurde, wie es uns der Namenlose Renegat gelehrt hat! Selbst Eure Magie wird sich dagegen als machtlos erweisen!«
»Ist die Aura Morygors für Euch zu übermächtig, Oras Ban? Oder was treibt Euch zu diesem Verrat?«, rief Thondaril, und sein Sprechstein übersetzte die Worte ins Gryphländische. »Bei der Gleichgültigkeit des Verborgenen Gottes, ich hätte es mir denken können.«
»Ihr würdet mich verstehen, wärt Ihr in meiner Lage!«
»Hört nicht auf die Stimme, die Euch etwas einzuflüstern versucht. Morygor wird seine Versprechen niemals halten!«
»So wie die Dinge stehen, haben wir keine Alternative. Und es ist auch nicht nur die Gedankenstimme Morygors, der ich folge, sondern vor allem der Hoffnung auf ein Weiterleben.«
»Ihr werdet Untote sein!«, hielt Thondaril dagegen.
Oras Ban ging nicht darauf ein, sondern forderte erneut:
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