Gorian 2
»Legt Eure Waffen ab. Niemand will Euren Tod. Morygor will nur zwei Dinge: dass die Schriften mit der gestohlenen Magie der Caladran diesen Ort nicht verlassen und dass Gorian stirbt. Für Euch aber gäbe es eine Zukunft.«
Für Augenblicke nahm das Gesicht Oras Bans die Züge Morygors an, als er noch ein junger Caladran gewesen war.
Gorian fiel es in diesem Moment wie Schuppen von den Augen. Morygor nahm schon seit langem Einfluss auf Oras Ban, auch wenn der Königliche Verwalter ihm vielleicht erst jetzt endgültig nachgegeben hatte. Die Langfristigkeit, mit der Morygor die Verzweigungen der Schicksalswege berechnete, war erschreckend, aber genau darin lagen seine Erfolge begründet. Er erkannte Gefahren für sich und seine Herrschaft bereits in einem Stadium, da er ihnen noch mit
Leichtigkeit begegnen konnte, jeder potenzielle Gegner wurde frühzeitig ausgeschaltet. Unter diesen Umständen grenzte es an ein Wunder, dass Gorian noch unter den Lebenden weilte.
»Ich muss ihnen helfen!«, stieß er hervor.
»Komm!«, rief der Namenlose Renegat und ergriff seine Hand. Die seine war eiskalt wie die eines Toten. Offenbar wusste auch er, was sich derzeit auf dem Turm abspielte.
Er zog Gorian mit sich auf jenes freie Stück der felsigen Höhlenwand zu, durch das der Maskierte zuvor verschwunden war. »Das Reisen durch Gestein ist eine leider arg in Vergessenheit geratene, aber sehr praktische Kunst.«
Während sie zusammen durch den Fels traten, sah Gorian wieder durch Sheeras Augen, was auf dem Turm geschah. Ein krächzender Schrei ließ die junge Ordensschülerin den Blick heben. Über dem Turm war ein geflügeltes Wesen erschienen, das sich schattenhaft gegen den grau gewordenen Himmel abhob.
Gorian erkannte in ihm sofort Ar-Don, auch wenn der Gargoyle diesmal eine vollkommen schwarze Färbung angenommen hatte.
Er stürzte herab und stieß dabei einen durchdringenden Schrei aus, in dem sich ein Schwall hasserfüllter, mordlüsterner Gedanken mischte.
Oras Ban schrie heiser einen Befehl in gryphländischer Sprache.
Unter seinen Männern waren fünf Armbrustschützen. Sie hoben ihre Waffen und schossen sie ab. Die magisch behandelten Bolzen aus Sternenmetall zogen glühende Spuren durch die Luft. Kurz hintereinander trafen sie den Gargoyle und sprengten ihn auseinander.
Seine Bruchstücke hagelten mit ungeheurer Wucht vom
Himmel und durchschlugen die Leiber von Oras Ban und seinen Männern. Ihre Körper zuckten unter den Einschlägen, wurden regelrecht zerfetzt und zerfielen zu Staub, noch ehe sie zu Boden stürzten.
Gorian und der Namenlose Renegat erreichten die Einflughöhle der Greifen. Sie traten einfach aus dem Fels heraus, ganz in der Nähe von Centros Bals Greifengondel, wo der Maskierte bereits auf sie wartete. Die metallene Truhe stand vor ihm auf dem Boden.
Zog Yaal saß auf dem Rücken des Greifen, und Centros Bal stand vor seiner Gondel.
»Wir brechen auf!«, rief Gorian.
»Ich dachte schon, der Kerl hier will mich auf den Arm nehmen«, entgegnete Centros Bal und deutete auf den Maskierten. »Was ist mit Meister Thondaril und …«
»Keine Fragen jetzt! Tut, was ich sage!«, verlangte Gorian.
Ein markerschütterndes Brüllen durchdrang die Höhle, vermischt mit dem lauten Klackern zuklappender riesenhafter Schnäbel, das sich als Echo fortpflanzte.
»Bedenke, dass alle Greifenreiter, die noch hier in Felsenburg weilen, Oras Bans Getreue sind!« , erreichte Gorian ein Gedanke des Namenlosen Renegaten. » Inzwischen sind sie wohl Morygors Sklaven!«
12
Greifenkämpfe
»Ich weiß nicht, was hier vor sich geht, und ich hoffe, dass du es Meister Thondaril erklären kannst«, sagte Centros Bal zu Gorian, während der Maskierte die messingfarbene Metalltruhe ins Innere der Greifengondel schweben ließ. »Ich jedenfalls übernehme für nichts irgendeine Verantwortung.«
»Es reicht, wenn Ihr uns hier herausbringt!«, drängte Gorian. »Und zwar lebend!«
Zog Yaal und der Namenlose Renegat waren bereits in der Gondel verschwunden. Centros Bal drehte sich wortlos um, ging auf seinen Greifen zu und ließ sich von einer Seilschlange auf dessen Rücken heben.
Gorian bemerkte jedoch, dass die Seilschlange zögerte, die Befehle Centros Bals auszuführen. Er verstand seit seinem Ausflug zur Befreiung von Ar-Don genug von diesen Tieren, um das erkennen zu können. Auch Centros Bals Greif war unruhig und schnappte wie ein wütender Schwan immer wieder mit dem Schnabel in die Luft, was
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