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Gorki Park

Gorki Park

Titel: Gorki Park
Autoren: Martin Cruz-Smith
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sie dabei. Eine junge Frau, die bald heiraten will, bringt ihre Großeltern ins Bett, schließt die Fenster und dreht das Gas auf, bevor sie abends ausgeht. Ein fleißiger Landwirt, ein angesehener Kolchosbauer, erwürgt ein Flittchen aus Moskau. Das sind Dinge, die offiziell nicht passieren dürften, aber sie sind die Wahrheit: ein Mann, der sich eine Geliebte und ein Auto leisten kann; eine junge Frau, die mit ihrem Ehemann im gleichen Zimmer mit den Großeltern hausen muss; ein Bauerntölpel, der dumpf ahnt, dass er sein Leben lang nicht aus seinem erbärmlichen Nest am Ende der Welt rauskommen wird. Solche Dinge erscheinen nicht in unseren Berichten, aber wir wissen darüber Bescheid. Deshalb müssen wir das Recht haben, die Wahrheit zu verändern. Das beeinflusst dann natürlich die Statistiken.«
    »Ihr meldet einfach weniger Morde?« fragte Kirwill.
    »Selbstverständlich.«
    Kirwill gab die Flasche weiter und fuhr sich mit dem Handrücken über die Lippen. »Wir lieben Morde«, stellte er lakonisch fest. »Die häufigste Todesursache bei jungen Amerikanern ist Mord. Der Tote ist kaum kalt, da ist er schon ein Fernsehstar - und jeder hat die Chance, ein Star zu werden! Man verlässt das Haus und wird erschossen oder bleibt zu Hause und sieht fern. Wir sprechen von einer neuen Kunstform, mein Freund! Wie kann man sich noch über echte Morde aufregen, wenn man viel bessere in Zeitlupe und mit Spezialeffekten auf dem Bildschirm sehen kann - mit einer Bierdose in der linken und einer Titte in der rechten Hand? Da können die echten Cops nicht mithalten! Alle wahren Cops sind in Hollywood; wir anderen sind nur Imitationen.«
    Sie fuhren im Holland Tunnel unter dem Hudson River hindurch. Arkadi war sich darüber im klaren, dass er sich Sorgen hätte machen müssen, weil Wesley jetzt wirklich glauben musste, er habe sich abgesetzt. Statt dessen befand er sich in eigenartiger Hochstimmung, als spreche er eine Sprache, die er nie gelernt hatte.
    »Unsere sowjetischen Morde bleiben geheim«, berichtete er. »Sogar Unfälle, Eisenbahnunglücke und Flugzeugabstürze werden geheimgehalten. Unsere Zeugen lügen. Manchmal hat man den Eindruck, unsere Zeugen fürchteten die Kriminalbeamten mehr, als die Mörder sie fürchten.« Von New Jersey aus sah er sich nach Manhattan mit seinen Millionen von Lichtern um.
    Wegweiser tauchten vor ihnen auf: New Jersey Turnpike, J. F. Kennedy Boulevard, Bayonne.
    Arkadi hatte einen trockenen Hals und nahm einen großen Schluck. »In Russland gibt’s nicht so viele Wegweiser.« Er lachte. »Wer nicht weiß, wohin eine Strasse führt, hat nichts auf ihr zu suchen.«
    »Hier leben wir von Wegweisern. Wir konsumieren Strassenkarten. Und wir wissen niemals, wo wir sind.«
    Die Flasche war leer. Arkadi legte sie auf den Wagenboden. »Erzähl mir mehr von deinem Bruder!« forderte er Kirwill auf. »Was für ein Mensch war er?«
    Der Lieutenant antwortete nicht gleich. »Jimmy war ein kleiner Heiliger«, sagte er nach einer längeren Pause. »Er litt unter seinen Eltern, solange sie lebten - und erst recht nach ihrem Selbstmord. So ist er den Pfaffen in die Hände gefallen. Stell dir vor, er hat sich zu Hause einen eigenen Altar gebaut! Ich hab versucht, ihm seinen religiösen Fimmel abzugewöhnen, und bin mir dabei oft vorgekommen, als sei ich dabei, einen Heiligen zu steinigen. Aber wie soll ich mir jemals verzeihen, dass ich ihn praktisch nach Russland getrieben habe?«
    Bayonne bestand aus Öltanks und silberglänzenden, hell beleuchteten Raffinerien, die an ein futuristisches Lager auf dem Mond erinnerten.
    »Jimmy und ich sind oft zum Fischen an den Allagash River in Maine gefahren«, erzählte Kirwill.
    »Dort oben gibt’s endlose Wälder, durch die eine einzige Strasse führt. Und im Fluss kann man Hechte, Barsche und Forellen angeln. Wir sind sogar im Winter zum Eisfischen hingefahren. Eingeschneit?
    Kein Problem. In unserer Hütte gab es massenhaft Konserven, einen offenen Kamin, einen Küchenherd und jede Menge Holz. Und draußen? Hirsche, Elche und auf je zweieinhalbtausend Quadratkilometer einen Wildhüter. Sonst nur Holzfäller und Frankokanadier, die schlechter englisch sprechen als du.«
    Eine Brücke führte über einen Fluss mit dem seltsamen Namen Kill van Kuli. Unter ihnen lief ein großer Tanker aus.
    »Staten Island«, kündigte Kirwill an. »Jetzt sind wir wieder in New York.«
    »Aber nicht in Manhattan?«
    »Nein, ganz bestimmt nicht in Manhattan! So nahe und doch so
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