Gotland: Kriminalroman (German Edition)
Wein konnte sie die Gedanken, die so klar und deutlich gewesen waren, nicht mehr vernünftig formulieren.
»Ich kapiere einfach nicht, wie du die Augen davor verschließen konntest. Du scheinst dir eine totale Traumwelt aufgebaut zu haben.«
»Wer ist hier der Träumer?«
Sie hatten an dem schwarzen Tisch in der Küche gesessen und es richtig gemütlich gehabt, bis Elin angefangen hatte, die falschen Dinge zu sagen. Schließlich konnten sie nicht länger sitzen bleiben. Ricky war zuerst aufgestanden. Sie hatte gedacht, er würde verschwinden und sie alleine zurücklassen. Aber er hatte sich nach zwei Schritten zu ihr umgedreht, war stehen geblieben und hatte sie wütend angeglotzt.
»Denk doch mal nach«, sagte Elin, »Stefania war immer da. Sie war immer bei uns beiden bei der Familie. Immer um dich und mich herum, jedenfalls solange sie die Kraft dazu hatte.«
»Sie war eben …«, fing er an und verlor den Faden. Dann nahm er einen neuen Anlauf: »Sie war immer da. Stefania war immer da. Stimmt. Sie hat sich um uns gekümmert. Wir hatten es gut zusammen.«
Er schluckte und wurde still. Dann sah er Elin an.
»Mach das nicht kaputt.«
»Ich mache gar nichts kaputt. Stefania war die beste große Schwester auf der Welt. Und wir drei hatten es wirklich gut zusammen. Wahnsinnig gut. Aber hast du dich jemals gefragt, warum sie immer da war, wieso sie immer dafür sorgte, dass wir drei zusammenblieben? Ein junges Mädchen, das ständig mit seinen jüngeren Geschwistern herumhängt? Denk mal darüber nach. Und warum ist sie immer um Papa herumgeschwänzelt, wenn er dabei war, wieso war sie immer so wahnsinnig darauf bedacht, ihn bei Laune zu halten. Irgendwie zog sie doch seine gesamte Aufmerksamkeit auf sich, sie wollte, dass er sich nur mit ihr beschäftigte.«
»Na, na, das …«
Ricky streckte die Arme in die Höhe, als wollte er eine schwere Last davon abhalten, auf ihn herabzustürzen. Dann raufte er sich die Haare.
»Hast du das nicht gesehen, oder hast du es nicht kapiert?«, fragte sie.
Sie hatte sich nach vorn gebeugt und gestikulierte aufgebracht.
»Kapiert? Was denn kapiert?« Er presste ein Lachen hervor. »Wie alt warst du? Acht, neun? Was hast du denn kapiert? Das sind doch alles nachträgliche Erklärungsversuche, Dinge, die du dir ausdenkst, weil du so viele Psychologiebücher liest.«
Ricky legte sich die Zeigefinger an die Schläfen und starrte sie an.
»Das, was du da sagst, ist nur hier drin. In deinem Schädel und in deinen Büchern.«
Ein Spucketropfen traf sie an der Wange, als er die Stimme hob. »Ganz ruhig«, sagte sie.
Er ließ die Arme fallen.
»Du irrst dich.«
Dann wendete er ihr den Rücken zu und verließ langsam und mit wohlgesetzten Schritten die Küche, als wollte er demonstrieren, dass er sich zwar nicht im Geringsten aufrege, es nun aber genug sei, genug geredet.
Eling ging ihm hinterher.
Warum konnte sie nicht einfach nachgeben und ihren Mund halten? Was spielte das alles überhaupt für eine Rolle? Aber es ging nicht. Sie ertrug es nicht, dass er versuchte, die Geschichte und die Wahrheit umzudeuten. Sie musste ihm widersprechen. Stefania, ihrer Mutter und sich selbst zuliebe.
Ricky ging hinüber ins Wohnzimmer und blätterte in einer Zeitung. Elin folgte ihm und baute sich mit verschränkten Armen vor ihm auf. Ricky starrte in die Zeitung.
»Warum, glaubst du, hat sie das gemacht?«, fragte Elin.
»Was?« Er wollte sie immer noch nicht ansehen.
»Alles. Was denkst du? Du scheinst ja zu glauben, dass du es wüsstest. Was weißt du denn? Wieso hat sie das gemacht?«
Mit einem tiefen Seufzer legte Ricky die Zeitung weg.
»Ich weiß einfach nicht, was du von mir hören willst. Wir haben doch schon darüber gesprochen.«
»Aber könntest du mir das denn nicht erklären, ich war doch damals viel zu klein, um irgendetwas zu kapieren, und außerdem bin ich von meinem Studium total in die Irre geleitet worden, ich kann ja vor lauter Psychokram kaum noch klar denken … Mann!«
Sie hielt inne und machte eine zitternde und flatternde Handbewegung.
»Volle sechs Wochen Paukerei.«
Rickys Augen blitzten auf, doch diesmal nicht vor Kälte, sondern vor Wut.
»Sie kümmerte sich um uns, wir hatten es gut zu dritt, darüber haben wir doch schon …«
»Und was ist mit Papa? Warum hat sie ihm immer so schöne Augen gemacht und wollte auf seinem Schoß sitzen? Was glaubst du wohl, was war der Grund, und welchen Preis hat sie dafür gezahlt?«
Sie hatte das
Weitere Kostenlose Bücher