Gotland: Kriminalroman (German Edition)
Gefühl, dass ihre Stimme zittern müsste, doch das tat sie nicht. Die Worte aus Elins Mund klangen fest und bestimmt.
»Was für einen Preis?«
»Sie hat dafür bezahlt. Es hat sie etwas gekostet, dass sie Mama retten wollte.«
Ricky schüttelte den Kopf. Es war still, im Zimmer und draußen, keine Autos, keine Traktoren, keine Tiere oder Menschen, nur ein lautloser Schwarm Vögel, so weit entfernt, dass es schien, als würde er sich nicht von der Stelle bewegen.
»Du hast gar nichts begriffen. Gut, Papa ist kein Engel, seine Launen können einem wirklich den Abend versauen, und das ist ja auch hin und wieder passiert. Sie wollte nur, dass wir fröhlich sind. Es war ganz anders, als du denkst.«
Elin warf ihm einen wütenden Blick zu.
»Sie musste auf eine Weise dafür bezahlen, die du dir überhaupt nicht vorstellen kannst.«
»Du bist doch nicht ganz dicht. Also wirklich. Gleich behauptest du auch noch, dass sie mit ihm geschlafen hat. Das wäre so typisch …«
»Nein, das sage ich nicht. Aber sie hat geschuftet wie ein Tier, um uns alle vor Papa zu beschützen. Dich, mich, aber vor allem Mama. Damit er sie nicht totschlägt. Kapierst du das nicht? Deswegen ist sie verrückt geworden. Sie ist gestorben. Er hat sie umgebracht.«
Elin hatte nicht gewollt, dass es so brutal klang. Sie hatte ihn nicht mit Gewalt darauf stoßen wollen, sondern gehofft, dass er von selbst darauf kam, aber sein beharrlicher Widerstand zwang sie, so deutlich zu werden. Irgendwie musste sie ein Loch in den Schild schlagen, hinter dem er sich versteckte. Es gelang ihr auch, aber er schlug zurück.
Er traf sie zwischen Wange und Kiefer. Es war nur eine Ohrfeige, aber er hatte die Kraft aus der ganzen Schulter gekommen. Stumm starrte sie ihn an, während sich ihre Augen mit Tränen füllten. Sie spürte eher eine Lähmung als Schmerz, als hätte sie nicht nur in der rechten Gesichtshälfte, sondern am ganzen Körper kein Gefühl mehr.
»Verzeih mir, verzeih mir, Elin, ich weiß nicht, ich habe einfach … ich habe nicht nachgedacht. Bitte, verzeih mir, Elin …«
Weit entfernt hörte sie den plätschernden Strom von Entschuldigungen. So vorhersehbar, so idiotisch, so lahm und so traurig. Dann lief es einfach. Sie weinte nicht, die Tränen quollen einfach aus ihr heraus, weil das untere Augenlid nicht noch mehr Tränenflüssigkeit halten konnte. Es war ein rein physiologisches Phänomen, gegen das sie machtlos war. Sie weinte doch nicht.
»Mensch, du bist so gut darin, ihn zu verteidigen, dass du so geworden bist wie er.«
Sein Gesicht zog sich zusammen, als hätte sie ihn geschlagen.
38
Stefania mit einem Schulbuch in der Hand. Ihr Stimme munter und fröhlich. Sie träumte von etwas, das noch kommen würde, einer Reise, einer Zukunft. Sie sah sich selbst in der Zukunft und malte sich aus, wie sie dann sein würde. Manchmal saß sie bei ihren jüngeren Geschwistern auf der Bettkante und las ihnen Märchen vor. Dann wieder das Schulbuch, eine Seite mit englischen Vokabeln, ein nacktes Bein, ein geripptes Unterhemd mit einer kleinen rosafarbenen Rose am Ausschnitt. Auf langen dünnen Beinen bewegt sie sich schnell durch den Raum.
Rickys Erinnerungen an sie bestanden vor allem aus solchen kurzen Ausschnitten. Am Ende war er vierzehn, an diese Zeit konnte er sich natürlich noch erinnern. Auch an den Tag, an dem sie sich zu Mama ins Auto setzte und nie wiederkam. Papa war in Japan, und die blassgelben Äpfel fielen von den Bäumen. Stefania sah auf ihren Schoß, und ihre langen Haare fielen ihr vors Gesicht. Er sah ihr nach, aber ihre Blicke trafen sich nicht mehr. Daran erinnerte er sich natürlich. Aber damals war sie bereits weit weg. Auch wenn sie noch manchmal mit breitem Lächeln von der Zukunft sprach und fröhlich vor sich hinplapperte, war es nicht mehr wie früher. Stefania war krank, hatte Mama gesagt, und von da an war die Krankheit allgegenwärtig. Alle Versuche Stefanias, etwas zu erzählen oder von irgendetwas zu träumen, wurden durch die Krankheit gefiltert. Sie färbte sogar ihre Bewegungen und Blicke. In erster Linie war sie krank. Dass sie Stefania war, kam erst an zweiter Stelle.
An die andere Zeit, als es noch ihre muntere Stimme und die leichtfüßigen Bewegungen im Haus gegeben hatte, besaß er kaum noch Erinnerungen. Sie war so lang, dachte er, aber vielleicht lag es auch daran, dass er so klein gewesen war. Lang, dünn und barfuß, dachte er aus irgendeinem Grund. Blasse, nackte Beine, auch im
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