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Gott geweiht

Gott geweiht

Titel: Gott geweiht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.E. Lawrence
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sie, verlor den Halt und kippte vornüber. Ein halbes Dutzend Hände richtete sie wieder auf, und sie setzte ihren langsamen Pilgergang fort. Ihr Mann hielt sie fester am Arm, sein Gesicht eine Maske aus Trauer und Zorn.
    Die Familie stieg in die Limousinen ein, die das Beerdigungsunternehmen gestellt hatte, während die Übrigen sich langsam zu ihren eigenen Wagen begaben, sodass nur noch die Journalisten auf dem regennassen Bürgersteig vor der Kirche zurückblieben. Obwohl Lee die Trauergemeinde eingehend studierte, konnte er noch immer nichts Auffälliges entdecken. Er war überzeugt, dass der Mörder, wenn er denn kam, allein sein würde. Es gab ein paar junge Männer, die vom Alter und von der Statur passen würden, aber sie waren mit Freundinnen oder Familie dort oder gehörten zu der Gruppe von Queens-College-Studenten. Lee ließ seinen Blick über die Studenten schweifen, aber es war äußerst unwahrscheinlich, dass der Schlitzer ein Student war, geschweige denn ein Kommilitone von Annie.
    Die Fernsehjournalisten sagten ihr Sprüchlein für die Kameras auf. Andere kritzelten eifrig in ihre Notizbücher, während wieder andere sich Zigaretten anzündeten, wobei sie die Köpfe unter ihre Regenmäntel steckten und die Streichhölzer vor dem Regen schützten. Lee wandte sich zum Gehen – und in dem Moment sah er aus dem Augenwinkel eine Gestalt, die abseits vom Rest des Pressekorps stand.
    Ein schlanker junger Mann in einem dunkelblauen Regenmantel lehnte an einer Douglastanne. Trotz des unförmigen Mantels konnte Lee erkennen, dass er schmale Schultern hatte, und seine knochigen Handgelenke verrieten einen unterernährten Körperbau. Er hatte einen langen, dürren Hals und einen vorstehenden Adamsapfel, sein Kopf war über ein Notizbuch gebeugt, sodass Lee sein Gesicht nicht sehen konnte. Es war etwas Beunruhigendes an dem Mann, vielleicht die Art, wie er die Schultern hochgezogen hatte – sie erinnerte Lee an einen lauernden Geier.
    Der Mann hob den Kopf, um zu den abfahrenden Wagen zu schauen, und Lee sah seine zarten, beinahe femininen Züge – bei einem Mädchen hätte man sie für hübsch gehalten. Sein Gesicht hatte etwas Gemartertes – eingesunkene Wangen und dunkle Ränder unter den Augen, so als wäre es schon eine Weile her, seit er zum letzten Mal richtig gut geschlafen hatte. Er wirkte nicht älter als neunzehn, war aber nach Lees Schätzung eher um die fünfundzwanzig. Das Bemerkenswerteste an ihm waren seine goldenen Augen, gelb wie Lampenschein – Wolfsaugen. Sie blitzten wie Edelsteine in seinem Gesicht, wachsam und misstrauisch. Den Namen auf dem Presseausweis, der am Revers des blauen Regenmantels baumelte, konnte Lee nicht lesen, und er wollte nicht stieren. Bislang hatte der junge Mann ihn nicht bemerkt. Während Lee ihn beobachtete, holte der Mann etwas Weißes aus seiner Tasche und hob es an seinen Mund. Zuerst dachte Lee, es wäre eine Zigarettenschachtel, doch dann erkannte er, dass es ein Inhalator war. Ihm schnürte sich der Magen zusammen, als der Unbekannte einmal kräftig und geübt den Kolben herunterdrückte, tief einatmete, die Luft anhielt und dann ausatmete.
    Lees Herz raste, als der Mann den Inhalator wieder in die Tasche steckte. Er hat Asthma! Lees Handflächen waren feucht von Schweiß, und er versuchte angestrengt, den Mann nicht anzustarren, während er ausklügelte, wie er sich ihm unverdächtig nähern konnte. Er würde zu ihm gehen und ihn um eine Zigarette bitten – nein, das ging nicht, denn nur wenige Meter von ihm entfernt pafften mehrere Reporter munter vor sich hin. Ihm musste etwas einfallen, das keinen Verdacht weckte, irgendetwas – doch noch während er sich verzweifelt das Hirn zermarterte, klappte der Mann sein Notizbuch zu und steckte es in seine Manteltasche.
    Er schaute sich um, bis sein Blick auf Lee fiel und ihre Augen sich trafen. Lee war sich nicht ganz sicher, aber ihm schien es, als habe der andere ihn erkannt. Sie starrten einander durchdringend an, und der Mann – bildete Lee es sich nur ein? – nickte kaum merklich, so als wollte er sagen: Ja, ich bin es . Die Andeutung eines Lächelns huschte über sein blasses Gesicht. Er weiß, wer ich bin , dachte Lee. Der Mann zog seinen Mantel fester um seinen mageren Körper und verschwand mit ausholenden Schritten um die Ecke der Kirche.
    Lee wollte ihm nachsetzen, doch er war gezwungen, eine Gruppe schon etwas betagter Trauergäste zu umrunden, die gerade aus der Kirche kamen – und als er

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