Gott geweiht
Butts hatte das Bild bereits den Familien der Opfer gezeigt, aber keiner hatte den Mann erkannt. Das überraschte Lee nicht – der Mörder war niemand aus ihrem Umfeld. Auch in den Akten gab es nicht einen Täter, der ihm ähnelte – ebenfalls keine Überraschung. Doch Lee wurde das Gefühl nicht los, dass er ihn schon einmal gesehen hatte – nur wo? Sosehr er sich auch bemühte, die Erinnerung blieb schemenhaft.
Lee starrte gedankenverloren auf die Regentropfen, die sich auf dem Fenstersims sammelten. Warum plagen wir uns ab? , ging es ihm durch den Sinn. Warum wieder und wieder die gleichen Kriege führen, die gleichen Fehler begehen, sich gegenseitig abschlachten und versklaven? Welchen Sinn hatte denn alles, wenn man sich als Spezies nicht weiterentwickelte? Warum musste jede Generation die gleichen Fehler machen, wenn die Menschheit als Ganzes nicht klüger, mitfühlender, einsichtiger wurde?
Er spürte, wie sich die vertraute Dunkelheit über ihn senkte, und stand auf, um diese Gedanken schnell aus dem Kopf zu verbannen. Die Depression lauerte noch immer auf ihn, und er kämpfte mit aller Macht dagegen an, wieder in jenen tiefen, tückischen Abgrund zu rutschen. Ein falscher Gedanke, eine plötzliche Einsicht, morgendlicher Sonnenschein, der in einer bestimmten Weise durch das Fenster fiel – alles konnte eine neue Episode auslösen.
Er zwang sich, seine Aufmerksamkeit ganz auf die Akten zu konzentrieren. Gerade als er sich deshalb an den Schreibtisch setzte, piepte sein Handy. Er griff danach und sah auf das Display: Neue SMS . Er zwang sich, ruhiger zu atmen, während er die Nachricht las:
Das war knapp. Mehr Glück beim nächsten Mal .
Lee legte das Handy hin. Mehr Glück beim nächsten Mal . Jetzt war er sich sicher, dass sich der Schlitzer nicht nur bei Annies Beerdigung als Journalist ausgegeben hatte, sondern Lee auch die Nachrichten über seine Schwester geschickt hatte. Doch woher wusste er Einzelheiten, die nie an die Presse gegeben worden waren? Es war beunruhigend … sehr beunruhigend.
Lee griff nach dem Telefon, um Chuck anzurufen, doch im selben Augenblick klingelte es. Er meldete sich.
»Hallo?«
»Hallöchen, Chef. Es geschehen noch Zeichen und Wunder – endlich erreiche ich dich mal!«
»Hallo, Eddie.«
»Wie geht’s, wie steht’s?«
Lee zögerte. Er war sich nicht sicher, wie viel er Eddie erzählen sollte. Schließlich gehörte er nicht zum offiziellen Ermittlungsteam. Doch seit jenen dunklen Tagen im St. Vincent’s war Eddie Vertrauter, Beichtvater und Therapeut in einer Person.
»Ich glaube, ich habe ihn heute gesehen.«
»Mein Gott. Wirklich?«
»Ja. Ich bin mir ziemlich sicher.«
»Und woher weißt du das?«
»Das möchte ich am Telefon lieber nicht sagen.«
»Hast du Angst, jemand könnte dich abhören?«
»Nein, das ist es nicht.« Lee wollte einfach nur wieder zurück an die Arbeit.
»He, hast du schon gegessen?«
»Äh – nein.«
»Okay, hör zu – wir treffen uns in zehn Minuten im Taj, ja? Und da erzähl ich dir, was Diesel und Rhino herausgefunden haben.«
Das Taj Mahal war Eddies Lieblingsinder in der East Sixth Street und lag exakt anderthalb Blocks von Lees Wohnung entfernt.
Lee sah auf die Uhr über seinem Schreibtisch. Halb sieben. Früher oder später würde er essen müssen.
»Okay.«
»Gut. In zehn Minuten. Bis dann.«
Lee hinterließ Nelson auf seinem Telefon zu Hause eine Nachricht und rief dann Chuck auf dessen Handy an. Nelson besaß keines – er betrachtete Handys als Vorboten der Apokalypse. Chuck ging nicht ran, also hinterließ Lee auch ihm eine Nachricht, warf sich in seinen Mantel und machte sich auf zum Taj Mahal.
Wie die meisten anderen Restaurants an der Sixth Street war das Taj Mahal klein – lang und schmal. Die Wände waren mit einer schwindelerregenden Ansammlung von Zierlampen geschmückt – jede Menge bunte Lichterketten, chiliförmige Lampions und elektrische Weihnachtsbaumkerzen. Alle Restaurantbesitzer in der Sixth Street schienen den gleichen Geschmack zu haben. In der Sixth Street war immer Weihnachten. Man konnte die Straße aus einem Block Entfernung sehen – blinkend, funkelnd, schimmernd, leuchtend. Lee bastelte an einer Theorie, um dieses Phänomen zu erklären – irgendein Verhältnis zwischen übertriebener Beleuchtung und scharfem Essen vielleicht.
Eddie saß bereits an seinem Lieblingstisch in der hintersten Ecke unter einem wallenden Baldachin aus lila Baumwollstoff und tat sich an einem Korb
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