Gott geweiht
geschlossen, der Kopf gegen das Fenster gelehnt, und die Scheibe beschlug von ihrem Atem. Im Geiste betete Lee, der liebe Gott möge sich ihrer annehmen und auf sie aufpassen. Aber ihm fehlte der Glaube an höhere Mächte. Was ihm in der Kindheit ein Rätsel war, war es auch noch heute. Für Lee blieben die großen Fragen des Lebens offen, und er rechnete nicht damit, dass er jemals eine Antwort darauf finden würde.
KAPITEL 40
Während der Rückfahrt in die Stadt schlief Kylie die meiste Zeit, aber als sie sich dem Jekyll and Hyde näherten, erwachte sie und wurde ganz zappelig. Sie verrenkte sich den Hals, um zu sehen, ob das Restaurant endlich in Sicht kam.
»Wir sind da!«, quiekte sie, als der Wagen die Sixth Avenue entlangfuhr und sie das Ziel ihrer Fahrt endlich erkennen konnte.
Das Jekyll and Hyde war ein Erlebnisrestaurant für Touristen und sieben- bis zwölfjährige Harry-Potter-Fans. Es belegte alle vier Stockwerke eines seltsam fehlplatziert wirkenden Gebäudes, das eingezwängt von hoch aufragenden Bank- und Bürokomplexen an der Sixth Avenue, Ecke 58. Straße stand.
The Jekyll and Hyde Club
verkündete in feuerroten, bluttropfenden Buchstaben ein Schild an der neogotischen Fassade des Hauses.
Verkleidete Schauspieler wimmelten durch alle Etagen des Restaurants. Sie sahen aus, als wären sie einem billigen Horrorfilm entsprungen, und verkörperten verschiedene Archetypen des Genres, wie den verrückten Wissenschaftler oder die Vampirbraut. Überall standen groteske Wasserspeier und Skelette, die sich bewegen und Laute von sich geben konnten. Es gab sogar unheimliche Porträtgemälde, die in altertümlich verzierten schweren Bilderrahmen an den Wänden hingen und deren Augen einem folgten, wenn man daran vorüberging.
Auf dem Weg zum Eingang des Restaurants hüpfte Kylie vor Vorfreude von einem Bein auf das andere und wiederholte dabei unaufhörlich immer wieder ihr Lieblingsmantra: »Chi-cken Nug-gets, Chi-cken Nug-gets.«
Kylie liebte Chicken Nuggets über alles, aber Lees Mutter hatte dafür überhaupt nichts übrig, und so kamen sie auch niemals auf den Tisch. Bei ihr gab es nur »richtiges Essen«, wie sie das auszudrücken pflegte.
Sie betraten das Restaurant und wurden sofort von der dort herrschenden unheimlichen Atmosphäre gefangen genommen. Die Wände waren mit roten Samttapeten bedeckt, und schwere viktorianische Vorhänge sorgten dafür, dass nicht der kleinste Sonnenstrahl durch die hohen, fast sakral wirkenden Fenster drang, die beinahe bis zur Decke reichten. So herrschte dort ein fortwährendes Dämmerlicht, das nur notdürftig von den flackernden Flammen der Gaslaternen erhellt wurde, die den Gästen den Weg durch die dunklen und unheimlichen Gänge wiesen.
Ein leichenblasser Schauspieler, der wie ein Vampir zurechtgemacht war, nahm sie in Empfang und führte sie die Treppen hinauf in den zweiten Stock, wo ihnen ein Ecktisch unter einem gerahmten Porträt zugewiesen wurde. Das Gemälde zeigte einen Mann mittleren Alters mit markanten Gesichtszügen, der ein mit Hermelin besetztes rotes Seidencape trug, was wohl verdeutlichen sollte, dass es sich bei ihm um einen Höfling aus dem 19. Jahrhundert handelte. Unter seinen buschigen Augenbrauen bewegten sich die Augen hin und her. Lee nahm an, dass dabei eine Art Fernsteuerung im Spiel war. Vielleicht war einer der Mitarbeiter des Restaurants speziell für diese Aufgabe abgestellt. Als er und Kylie Platz nahmen, folgten die Augen des Edelmanns jeder ihrer Bewegungen.
Kylie bemerkte es auch. Vergnügt quietschte sie: »Guck mal, guck mal, er beobachtet uns!«
»Ja«, antwortete Lee abwesend, während er sich im Restaurant umsah. Er hatte das beunruhigende Gefühl, dass tatsächlich jemand sie beobachtete – und zwar nicht nur die Augen auf dem Gruselbild an der Wand. Aber in dem Laden befanden sich lediglich Familien mit Kindern, die auf ihren Sitzen zappelten, und die kostümierten Kellner, die geschäftig durch den Raum eilten, Speisen servierten und den einen oder anderen kurzen Plausch mit den Gästen hielten.
Kylie knuffte Lee in die Seite. »Da kommt der verrückte Professor!«
Lee drehte sich um und sah den Schauspieler, der den verrückten Professor mimte, mit wehenden Kittelschößen auf sie zukommen. Seine Haare standen wirr vom Kopf ab, wie es sich für ein wahnsinniges Genie gehörte. Er machte einen leicht zerknitterten Eindruck, als würde er den wenigen Schlaf, den er sich gönnte, auch in seiner
Weitere Kostenlose Bücher