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Gott geweiht

Gott geweiht

Titel: Gott geweiht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.E. Lawrence
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über einen feuchten Fleck auf dem Boden hinwegsteigt.
    Sie war zwar nicht unbedingt hübsch, aber ihr kantiges Gesicht mit den hohen Wangenknochen und dem kräftigen Kinn ließ sie auf eine gewisse Weise gut aussehen. Ihre Haut war gepflegt und gesund, und ihre klaren blauen Augen, die gerade Nase und der entschlossene Mund machten sie zu einer attraktiven Frau. Sie hatte sich »ganz passabel gehalten«, wie sie es selbst auszudrücken pflegte. Lee hatte ihr einmal vorgeschlagen, sie solle es doch als Model für Seniorenmagazine versuchen, aber sie hatte diese Idee mit einer abfälligen Handbewegung abgetan. Er war sich nicht sicher, ob sich das auf die Arbeit als Fotomodel bezog oder auf die Vorstellung, dass irgendjemand sie für eine Seniorin halten könnte. Wenn sie über die »alten Damen« aus ihrer Gemeinde sprach, klang es immer, als würde sie von einer außerirdischen Spezies berichten.
    Fiona gab ihrem einzigen Sohn den gewohnten Kuss auf die Wange, und da bemerkte sie es.
    »Was um Himmels willen ist denn mit dir passiert?«
    »Ich hatte einen Unfall.«
    »Grundgütiger! Was zum –?«
    Kylie sah nun ebenfalls zu ihm hoch.
    »Du hast ja ein blaues Auge, Onkel Lee!«
    »Ich bin gegen die Tür gelaufen«, log er. »Ziemlich blöd, was?«
    Kylie war mit dieser Erklärung zufrieden. Seine Mutter nicht. Skeptisch zog sie eine Augenbraue hoch, aber er schüttelte nur leicht den Kopf und sah vielsagend zu Kylie hinüber. Fiona verstand den Hinweis und wechselte das Thema.
    »Wo wollt ihr denn heute hin?«, erkundigte sie sich.
    »Können wir ins Jekyll and Hyde gehen? Bitte, bitte, ja?«, bettelte Kylie.
    »Klar«, antwortete Lee.
    »Da ist es sooo cool!«, schwärmte Kylie ihrer Großmutter vor und hüpfte vor Begeisterung von einem Fuß auf den anderen.
    »Aber nur, wenn du heute Abend nicht zu spät ins Bett gehst«, mahnte Fiona.
    »Nö, nö.«
    »Okay, wir machen uns dann besser auf den Weg«, sagte Lee und ließ die Autoschlüssel um den Zeigefinger seiner linken Hand kreisen. Er hatte – obwohl er Rechtshänder war – oft einen Hang dazu, unbewusst auch die Linke zu verwenden. Fiona behauptete, dass er die Beidhändigkeit von seinem Vater geerbt habe.
    »Willst du noch eine Tasse Tee, bevor ihr aufbrecht?«, lud ihn seine Mutter ein.
    Lee sah auf die Uhr. »Danke, nein. Wir müssen los, wir haben ja noch ein ganzes Stück Fahrt vor uns.«
    »Wie du meinst – dann ab mit euch!«, entgegnete sie resolut und scheuchte die beiden fast aus dem Haus, aber nicht ohne ihnen vorher noch einen flüchtigen Kuss auf die Wange zu hauchen.
    Wegen der schönen Aussicht entschied sich Lee dafür, die River Road am Delaware River entlang zu nehmen. Als er durch die Felder auf den Fluss zufuhr, kam ein vertrauter Anblick in Sicht. Direkt vor ihnen lag McGill’s Hill. Wegen seiner breiten steilen Hänge war er die beliebteste Rodelbahn im ganzen Umkreis und stand nach wie vor bei den Kindern der Gegend hoch im Kurs.
    Auf dem braunen Gras der Pisten lag noch eine dünne Schicht aus feinem Schnee. Ein einsamer Terrier trippelte auf dem Gipfel des Hügels umher und schnüffelte sorgsam an jedem Baumstamm, bevor er ihn mit seiner Duftmarke versah. Ein Stück entfernt folgte ihm eine junge Frau, die beim Gassigehen las und so in ihr Buch vertieft war, dass sie ihre Umgebung gar nicht wahrzunehmen schien.
    Lee musste sich zusammenreißen, um nicht anzuhalten und sie zu belehren, doch bitte vorsichtiger zu sein. Der Anblick einer einsamen Frau in einer verlassenen Gegend löste nun immer diesen Impuls in ihm aus. Laura hatte es geliebt, auf McGill’s Hill rodeln zu gehen.
    »Kommst du mit deiner Großmutter manchmal hierher zum Schlittenfahren?«, fragte er Kylie, die eingelullt vom gleichmäßigen Ruckeln und der Wärme im Auto kaum die Augen offen halten konnte.
    »Manchmal«, antwortete sie. »Und sie will Fiona genannt werden, nicht Großmutter.«
    Lee musste grinsen. Er hatte keine Ahnung, was es mit dieser neuesten kleinen Marotte seiner Mutter auf sich hatte. Um ihr Alter ging es dabei bestimmt nicht. Sie verriet es jedem, der es hören wollte – allerdings erst, nachdem man es geschätzt hatte. Wurde sie dabei, wie so oft, für zehn bis fünfzehn Jahre jünger gehalten, strahlte sie stolz übers ganze Gesicht. Einmal jedoch hatte eine junge farbige Kellnerin ihr Alter sehr präzise geschätzt, und Fiona hatte für den Rest des Abends schlechte Laune gehabt.
    Lee sah sich nach Kylie um. Ihre Augen waren halb

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