Gott geweiht
schicksalhafte Unheil seinen Lauf nehmen kann!« Die unheimliche Musik schwoll wieder an.
»Ich muss mal«, quengelte Kylie.
»Dann geh. Aber beeil dich, sonst verpasst du die Show.«
Sie rutschte von ihrem Stuhl und machte sich auf den Weg zu den Toiletten, die im hinteren Teil des Restaurants lagen. Lee sah ihr nach, bis sie um eine Ecke verschwand, und überlegte kurz, ob er ihr nicht folgen sollte. Aber er kannte seine Nichte und beschloss, ihr nicht auf die Nerven gehen. Sie war zwar erst sechs, wollte aber schon so unabhängig wie möglich sein und wehrte sich immer vehement, wenn man sie wie ein Kleinkind behandelte.
Als der Kellner erschien, bestellte Lee Chicken Nuggets und für sich selbst gebratene Thai-Spießchen. Dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Bühne, wo Doktor Frankenstein sich über den Körper seiner noch unbelebten Kreatur beugte. Die Nebelmaschinen spuckten unablässig dicke Rauchwolken aus, die die Szenerie in unheimliche, sich träge windende Schwaden hüllte. Doktor Frankensteins irres Lachen hallte durch den Raum, als er sich daranmachte, den altmodischen Schalter umzulegen, der für die nötige Elektrizität zur Belebung seiner schrecklichen Schöpfung sorgen sollte.
»Und nun gebt Acht!«, verkündete Doktor Frankenstein mit schriller Stimme und riss mit einer fließenden Bewegung das Tuch vom Körper seiner Schöpfung. Die Scheinwerfer flackerten und erloschen für einen kurzen Moment. Dann wich die Dunkelheit auf der Bühne blauer Hintergrundbeleuchtung, und angestrahlt von einem einzelnen roten Scheinwerfer, richtete die Kreatur sich auf, die Arme steif nach vorne ausgestreckt. Die Kinder am Nebentisch starrten gebannt auf das neugeborene Monster.
Lee bedauerte, dass Kylie dieses Spektakel verpasste. Und wo er gerade daran dachte, hätte sie nicht längst zurück sein müssen? Ein leichter Anflug von Angst überkam ihn.
Er stand auf, ging zu den Toiletten, während er das wachsende Gefühl von Panik zu unterdrücken versuchte. Er klopfte an die Tür, und als keine Reaktion kam, öffnete er sie.
»Kylie! Bist du da drinnen? Kylie?«, rief er durch die offene Tür.
Stille. Er drehte sich um und lief ins Restaurant zurück. Adrenalin rauschte durch seinen Körper. Seine Brust war wie zugeschnürt, und ihm wurde schwindelig. Er fühlte sich, als würde er ertrinken. Bitte nicht – das darf nicht passieren! Erst Laura, jetzt sie! Lass das nicht wahr sein! Lass das nicht wahr sein!
Lee konnte nicht mehr klar denken. Er zwang sich, ein- und auszuatmen, während er auf den Eingangsbereich zulief. Da sah er sie. Kylie musterte die T -Shirts und vielfältigen Souvenirartikel an einem der zahlreichen Verkaufsstände. Die Anspannung fiel so schlagartig von ihm ab, dass ihm die Knie weich wurden und er fast gestolpert wäre.
Er lief zu ihr, schnappte sie bei den Schultern und begann sie zu schütteln.
»Was ist denn los?«, begann sie verstört zu wimmern. Er wollte sie gleichzeitig ohrfeigen, anbrüllen und umarmen.
»Kylie, du darfst nie wieder einfach so weglaufen, ohne mir Bescheid zu sagen, hast du verstanden?«
»Aber ich habe mir doch nur die T -Shirts angesehen.«
Er wollte sie nicht erschrecken, doch sein Ton war schroffer als beabsichtigt.
» Nie wieder! Ist das klar?«
Kylies Unterlippe zitterte, und Tränen begannen sich in ihren Augenrändern zu sammeln.
»Ich lauf doch gar nicht weg – ich war die ganze Zeit hier «, versuchte sie sich zu rechtfertigen.
»Ob das klar ist, habe ich gefragt?«
Kylie fühlte sich ungerecht behandelt und ließ ihren Tränen freien Lauf.
»Ich-bin-nicht-weggelaufen!« , schluchzte sie mit erstickter Stimme.
»Ich könnte es nicht ertragen, dich auch noch zu verlieren!«, beschwor er sie, während er Kylie fest an sich drückte. »Verstehst du das denn nicht?«
Statt zu antworten, begann sie nun erst richtig laut zu weinen. Ihr herzerweichendes Schluchzen erregte die Aufmerksamkeit zweier Frauen, die sofort zu ihnen herübereilten. Eine der beiden zog Lee heftig von Kylie weg und versetzte ihm eine gut gezielte Ohrfeige. Die andere nahm Kylie schützend auf den Arm.
»Hat er dir wehgetan, meine arme Kleine?«, wollte sie wissen, während sie Kylie mit einem rot gepunkteten Taschentuch die Tränen trocknete. Lee starrte auf die roten Punkte – sie wirkten auf ihn wie Blutspuren.
Die andere Frau sah aus, als wollte sie Lee erneut schlagen. Sie war groß, mit Schultern wie ein Footballspieler, und ihre von grauen
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