Gott ist tot
Tränen. »Ich habe den Kundendienst angerufen, damit sie die Türsperre lösen, aber ich musste so weinen, dass die Frau mich nicht verstehen konnte, und die ganze Zeit saß Levon da drinnen gefangen, so nah, und ich konnte ihn doch nicht berühren und nicht in den Arm nehmen, und er sah, wie verzweifelt ich war, und fing auch zu weinen an. Irgendwann reimte sich die Frau vom Kundendienst dann zusammen, was ich von ihr wollte, und öffnete per Funksignal das Schloss, aber bis dahin hatte sie schon die Polizei und die Feuerwehr alarmiert, und die rückten alle an, zwei Streifenwagen, ein Krankenwagen und ein Feuerwehrauto, und da stand ich und fühlte mich grauenhaft, so absolut grauenhaft, dass ich meinen Sohn gefährdet und allen diesen freundlichen Leuten Arbeit gemacht hatte, nur für einen Kaffee, den ich nicht mal getrunken habe, weil er mir in meiner Panik aus der Hand gefallen ist.«
Ich zupfe ein Kleenex aus der Schachtel auf meinem Schreibtisch und reiche es Mrs. DerSimonian.
»Ich fühle mich immer noch grauenhaft«, schnieft sie und tupft sich die Augen.
Ich spiele kurz mit dem Gedanken, sie darauf hinzuweisen, dass Levon keine Sekunde in Gefahr war, dass der Notruf eigens zum Zweck solcher Einsätze existiert und dass eine Mutter, die ihren Sohn für dreißig Sekunden alleinlässt, wohl kaum ein unentschuldbares Vergehen begeht.
Stattdessen sage ich: »Mrs. DerSimonian. Erzählen Sie mir, wie wunderbar Ihr Sohn ist.«
Sie gibt einen erstickten, frustrierten Kehllaut von sich, lässt das Taschentuch in ihren Schoß fallen und sagt: »Er ist sehr, sehr intelligent, ja?«
»Nein!« - und ich haue mit der Faust auf die Tischplatte. »Beim letzten Wechsler-Intelligenztest für Kinder in der Vorund Grundschule hat er gerade mal 92 Punkte erreicht, was ihn unter seinen amerikanischen Altersgenossen solide im Mittelfeld positioniert. In den sieben Tests davor ist er nie über die 98 hinausgekommen. Wie die meisten von uns wird auch Levon sich damit abfinden müssen, dass der intellektuelle Fortschritt der Menschheit zu seinen Lebzeiten von einigen wenigen Hochbegabten geleistet wird. Er wird ein Mitläufer sein, kein Mitgestalter.«
Mrs. DerSimonian schaut mich hasserfüllt an. »Wie wär’s«, sagt sie, »wenn Sie sich einfach ins Knie ficken?«
Ich lehne mich zurück und fahre mir durchs Haar. »Ich will Ihnen doch nur helfen«, sage ich.
Als BUKK-Spezialist für Fälle übersteigerter Kinderliebe in Watertown und Umgebung bin ich sowohl der wichtigste als auch der verhassteste Mann in Kennebec County. Der wichtigste deshalb, weil ohne mich mein Zuständigkeitsbereich nur zu bald in den Zustand kindesanbetender Anarchie zurückverfiele, aus dem ich ihn erst vor zwei Jahren gerettet habe. Und der verhassteste, weil ich die Menschen zwinge, ihre Kinder als das zu sehen, was sie sind: als unvollkommene, sterbliche und letztlich nutzlose Kreaturen.
Bevor ich von der BUKK rekrutiert wurde, betrieb ich eine kleine Privatpraxis. Ich hatte eine Frau, einen Berg Schulden noch vom Studium, wir bekamen ein Kind. Alles, wie es sein sollte. Optimismusgeladen. Ich half den Menschen auf eine Art, die sie froh und dankbar machte. Sie kamen mit ihren Phobien, ihren Sexualstörungen und Selbstmordgedanken zu mir, und ich kümmerte mich um sie. Sie lagen mir am Herzen. Es war kein Job damals. Es war mein Leben. Ich nahm
Patienten an, die nicht versichert waren, ich arbeitete sechzehn Stunden am Tag, ich ließ auf eigene Kosten ein Krisentelefon bei uns zu Hause einrichten, damit die Leute anrufen konnten, wann immer sie mich brauchten. Meine Frau Laura, rundbäuchig und strahlend, liebte mich. Sie glaubte an das, was ich tat. Wir wollten eine Familie gründen.
Aber wir schrieben schlechte Zeiten, das Ende eines Jahrzehnts wirtschaftlicher Krisen mitsamt den dazugehörigen sozialen Missständen: Massenarbeitslosigkeit, ein besorgniserregender Anstieg bei Drogenmissbrauch, häuslicher Gewalt und Eigentumsdelikten, dazu Rassenunruhen, Arbeitskämpfe und, im Zuge der mittlerweile legendären Übernahme des Veteranen-Hospitals in Cleveland durch erboste Golfkriegs-Heimkehrer, organisierte und gewalttätige Insubordination.
Dann erfuhr die Welt von Gottes Tod im Sudan. Soweit sich die Vorfälle rekonstruieren ließen, hatte er menschliche Gestalt angenommen, um den bewaffneten Konflikt zwischen der islamischen Regierung des Sudan und dem christlichen Nuer-Stamm im Süden hautnah mitzuerleben. Er hatte versucht, mit
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