Gott ist tot
Stunde.
Ich bin auf dem Weg zu meinem Bruder. Es gibt etwas, das ich erledigen muss, um mich und Melissa und meine Eltern und meinen Bruder von der Last zu befreien, zu der seine Tat geworden ist. Aus diesem Grund habe ich meinen Totschläger dabei - noch so ein Geschenk von meinem Großvater: ein Eisenprügel, in abgewetztes Leder eingeschlagen wie eine Wurst in ihr Brötchen. Mein Großvater hat ihn aufsässigen GIs über den Schädel gebraten, als er Militärpolizist in der Army war. Er ist aus Eisen und deshalb schon seit Jahren verboten, aber ich habe ihn als Andenken behalten. Und jetzt habe ich eine Verwendung für ihn.
Aber nicht nur deswegen will ich zu meinem Bruder. Es gibt da etwas, das ich ihn fragen, etwas, das ich von ihm wissen muss. Vor ein paar Tagen, als meine Eltern abgefahren waren und ich zurückkam in mein leeres Haus, ließ ich mich
aufs Sofa fallen, legte den Kopf nach hinten und dämmerte weg. Aus den Nebeln der Schläfrigkeit tauchte etwas auf, eine Erinnerung, so schien es mir: ich als Junge von sechs oder sieben auf einer struppigen Wiese hinter dem verlassenen Feuerwehrhaus nicht weit vom Haus meiner Eltern. Aus einer harmlosen Rauferei mit einem anderen Jungen, einem größeren, stärkeren Jungen, war plötzlich Ernst geworden. Ich lag unter ihm auf dem Rücken, und die scharfen, abgeknickten Halme dürrer Gräser stachen durch mein Hemd. Seine eine Hand drückte mich an der Schulter zu Boden, die andere drosch mir mehrmals ins Gesicht, ungezielt, linkisch, aber immer noch fest genug, dass mir die Lippe aufplatzte. Ich zappelte und wand mich hin und her, aber ich konnte den älteren Jungen nicht abwerfen, und so fing ich zu weinen an, und obwohl das das Einzige war, was noch ging, das Einzige, woran dieser Junge mich nicht hindern konnte, schämte ich mich in all meiner Angst noch dafür.
Und dann erschien, praktisch aus dem Nichts, mein Bruder, der noch viel größer und stärker war als dieser ältere Junge. Er packte den Jungen mit den Fingern seiner breiten Hand beim Schopf und zog ihn in die Höhe. Der Junge schrie auf, grimassierend vor Schmerz, und schlug blind nach dem Handgelenk meines Bruders, und dann brach sein Geschrei abrupt ab, als die andere Hand meines Bruders, zu einer mächtigen Faust geballt, auf seiner Nase landete. Blut spritzte aus dem Gesicht des Jungen wie Wasser aus einem geplatzten Wasserballon, und er ging zu Boden, und mein Bruder saß auf seinem Brustkasten, und jetzt war der Junge es, der weinte und um Gnade bettelte, während mein Bruder mit einer Stimme, die ich nicht erkannte, immer wieder dieselbe unheimliche Abfolge von Sätze hervorstieß, und obwohl er so brutal zuschlug, dass ich Angst bekam, und auch
dann nicht aufhörte zuzuschlagen, als ich schrie und an seinem Hemd zerrte, war ich irgendwo tief drinnen doch froh und stolz, einen Bruder zu haben, der so groß und stark war, einen Beschützer, auf den ich zählen konnte.
Aber als ich wieder ganz bei mir war, auf dem Sofa in diesem leeren Haus, Melissa abgereist, meine Eltern abgereist, wusste ich nicht, ob ich nur geträumt hatte oder ob es wirklich passiert war vor all den Jahren. Er nagte an mir, dieser Zweifel. Und als die Tage verstrichen und die Erinnerung oder das Traumbild, statt zu verblassen, nur immer stärker und lebhafter wurde, nagte er noch mehr an mir, bis ich heute Nachmittag schließlich beschloss, zu meinem Bruder zu fahren und ihn zu fragen, ob er sich erinnert.
Vorsichtig biege ich vom Highway ab und folge den Wegweisern zur Irrenanstalt. Die Straßen sind leer bis auf die großen orangefarbenen Schneepflüge, die Schneewälle am Straßenrand auftürmen und Sand hinter sich ausstreuen. Alle Ampeln blinken gelb. Ich durchfahre sie langsam, ohne aufs Gas zu steigen oder zu bremsen.
Die Irrenanstalt liegt etwa zweihundert Meter abseits von der Straße. Ich halte an, steige aus und schaue auf das Anstaltsgelände hinab. Zu meiner Überraschung sehe ich nirgends Mauern, nirgends mit Natodraht bespannte Zäune. Aus dieser Entfernung könnte die Klinik leicht als ein kleiner College-Campus durchgehen. Ich zähle sechs oder sieben größere Backsteingebäude, alle kräftig mit orangegelbem Flutlicht angestrahlt. Die meisten Fenster sind dunkel, nur hinter ein paar vereinzelten brennt Licht. Ein kleiner Schneepflug räumt die lange, schmale Zufahrt, die von der Hauptstraße zum Klinikeingang führt.
Ich zünde mir eine Zigarette an. Der Schnee fällt jetzt schräger, ein böiger
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